Elfenschwestern
Dunkeln. Aber hier und jetzt suchte sie sofort nach dem Lichtschalter. Als die Deckenlampen aufflammten, schloss Lily kurz geblendet die Augen. Noch blinzelnd machte sie sich an den Abstieg. Während sie die Treppen hinunter und die Flure entlanglief, dachte sie: Hinter all diesen Türen schlafen Menschen, nur ich bin hier draußen, nur ich bin allein. Als sie endlich im Erdgeschoss ankam, warf sie sich fast gegen die Eingangstür, so eilig hatte sie es, rauszukommen.
Der Winter umfing sie in einer eisigen Umarmung. Er verschlug Lily für einen Moment den Atem. Dann holte sie tief Luft, spürte dankbar, dass die Kälte ihr in die Lungen stach, ihre Wangen prickeln und ihren Kopf klar werden ließ. Aufmerksam sah Lily sich um. Zwei gepflasterte Wege liefen durch den Hof, kreuzten sich in der Mitte. Zahlreiche Fußabdrücke folgten ihnen, waren aber schon verwischt, von anderen überlagert oder mit frischem Schnee gefüllt. Lily suchte frische Spuren – und fand zwei, die zur Haustür führten. Tiefe Abdrücke waren es, Lily sah die Scotland-Yard-Beamten vor sich, wie sie entschlossen zu Kates Haus stapften. Ob sie einen Blick nach oben geworfen hatten, bevor sie klingelten? Lily tat es.
Schwarz und silbern ragte Kates Wohnhaus im Mondlicht vor ihr auf. Weiß lag Schnee auf den Simsen, die um jedes Geschoss liefen, polsterte die Zierleisten über den Fenstern, klebte am Mauerwerk. Doch das regelmäßige Muster war durchbrochen: In Höhe von Kates linkem Wohnzimmerfenster wies der Schnee die ganze Hauswand entlang Lücken auf.
Ich wusste es, dachte Lily. Aber ein Triumphgefühl stellte sich nicht ein. Etwas anderes nagte an ihr. Aufsteigende Panik. Ja, Lily hatte Recht gehabt. Die Fey waren in ihr Leben getreten. Nach all den Jahren, in denen die Familie Fairchild versucht hatte, sich unauffällig zu verhalten.
Lily ballte die Fäuste und atmete tief ein. Sie wollte ihren Feind wiedererkennen können. Nur ganz schwach haftete der Geruch nach feuchtem Herbstwald am Backstein. Hätte sie diesen Duft nicht schon oben in Kates Wohnung wahrgenommen, hätte sie ihn nicht bemerkt.
Dafür roch sie jetzt etwas anderes umso stärker: Wolle, nass geschneit und über einer Heizung getrocknet, Salz auf menschlicher Haut. Sie war nicht allein. Lily spannte sich. Wirbelte herum, dass Schnee aufstob, duckte sich wie zum Sprung und fauchte warnend.
Er zuckte zusammen. Sagte: „Himmel!“, und hob dann beruhigend beide Hände, zeigte ihr die leeren Handflächen.
Sie erkannte diese Geste.
„Tigerlily“, sagte Jolyon Wilde. „Ich bin’s nur.“
Langsam richtete sich Lily wieder auf. „Was tust du hier?“, fragte sie. Und ihre Stimme klang klein und verloren in dem hoch umbauten, leeren Hof.
„Ich suche dich“, antwortete er.
Sie schüttelte den Kopf. Verstand nicht, was er ihr sagen wollte. „Es ist mitten in der Nacht, warum …“ Sie brach ab.
„Ich weiß es“, sagte er schlicht.
Sie schloss die Augen. Dachte an Superintendent Davis und Sergeant Webber, die Zeugen finden und Campusbewohner befragen wollten. So schnell waren sie gewesen? Nun, wahrscheinlich war es wie mit Spuren im Schnee. Wartete man zu lange, verschwanden sie.
Jolyon sprach weiter. „Es tut mir leid, Tigerlily.“
Sie hob abwehrend eine Hand. „Nicht“, sagte sie flehend.
„In Ordnung.“ Er trat näher. „Wir müssen nicht darüber reden.“ Er trat noch näher. „Gibt es denn sonst etwas, was ich für dich tun kann?“
Sie hob hilflos die Schultern. Sie hätte gerne Ja gesagt.
Jolyon betrachtete sie. „Du siehst aus, als wäre dir kalt.“
Lily schaute ihn nur an.
„Lass mal sehen, ob ich Recht habe.“ Er umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen. „Ich hatte Recht“, erklärte er. „Deine hübschen Ohren sind eisig.“ Sein Atem kondensierte in dem bisschen Platz, der zwischen seinen und ihren Lippen war. „Lass uns reingehen. Ich bring dich zurück.“
Lily schüttelte den Kopf, sodass er sie loslassen musste. „Ich geh da nicht wieder rein“, teilte sie ihm mit.
„Nein?“
Lily schüttelte wieder den Kopf.
„Hm.“ Er betrachtete sie nachdenklich. „Und wenn ich mitkomme? Dann hast du ein bisschen Gesellschaft. Dann musst du heute Nacht nicht allein sein.“
Dass er das erraten hatte. Aber auch mit ihm wollte sie nicht zurück dorthin, wo es nach Gray und fremden Elfen roch.
„Nein“, sagte sie.
„Hier draußen können wir jedenfalls nicht bleiben“, stellte er fest. „Sonst erfrieren wir.“
Dieses
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