Elfenschwestern
plötzliche Tränen weg. Ob sie ihr vor Wut oder Enttäuschung die Sicht verschleierten, hätte sie nicht sagen können.
Kate richtete sich auf. Auf einmal brannte da in ihren braunen Augen ein Feuer. „Meine Tochter kann Ihnen nicht helfen“, erklärte sie energisch. „Was tun wir als Nächstes?“
Die Männer zögerten und warfen sich einen unsicheren Blick zu.
Lily registrierte es mit Erstaunen.
„Wenn Sie uns vielleicht begleiten würden?“, fragte Superintendent Davis, zeigte lächelnd seine blendend weißen Zähne und neigte einladend den Kopf, fast so, als wolle er Kate nicht mit auf die Wache nehmen, sondern zu einer Verabredung bitten.
Sergeant Webber fügte hastig hinzu: „Wir benötigen Ihre Aussage.“
Irgendwie hatte Lily das Gefühl, als habe er das mehr für sie als für Kate erklärt.
Kate verschwand in ihrem Zimmer, um sich vollständig anzuziehen. Lily blieb mit den Beamten zurück. Sie hatte ihnen nichts mehr zu sagen. Um ihnen das klarzumachen, drehte sie sich wortlos um und sah aus dem Fenster. Sie hätte ihrer Mutter folgen, sie unter vier Augen anflehen können, sich ihr zu öffnen oder den Polizisten die Wahrheit zu sagen. Aber sie wusste mit schmerzlicher Sicherheit, dass all ihre Versuche vergebens sein würden.
Als Kate wieder das Wohnzimmer betrat, trug sie bereits den Mantel mit dem Fuchspelzkragen. War es wirklich erst wenige Stunden her, dass Lily gedacht hatte, ihre Mutter sähe jung und reizend darin aus? Jetzt wirkte sie, als würde sie nie wieder lachen können.
„Ich komme zurück, so schnell es geht, Lily“, sagte Kate. Selbst ihre Stimme klang wie die einer Fremden.
Und dieser Fremden wollte Lily nicht antworten. Sie starrte schweigend weiter in die Nacht. Hörte Schritte sich entfernen. Erst schwere, entschlossene, dann leichtere, hastige. Einer der Scotland-Yard-Beamten war noch nicht gegangen, stand noch hinter ihr.
Lily spürte, wie ihre Nackenmuskeln sich verspannten.
Leise sagte Sergeant Webber: „Ich bin sicher, alles wird gut.“
Dann war Lily allein.
Sie lehnte die Stirn an das eiskalte Fensterglas und schloss die Augen.
Es fühlte sich an, als hätten ihr die fremden Elfenwesen nicht nur den Bruder geraubt, sondern auch die Mutter.
5
Here come the lovers, full of joy and mirth. ~ Hier kommen die Verliebten, froh und glücklich.
Was war stärker? Wut oder Angst? Lily wusste es nicht. Sie kam auch nicht dahinter, ihr übliches Rezept gegen Probleme, Logik und Vernunft, wirkte nämlich nicht. Anstatt in ruhigen Bahnen überlegen zu können, stolperte sie über ihre eigenen Gedanken. Das war irritierend und sinnlos. Wut oder Angst? Lily wollte weder das eine noch das andere fühlen. So konzentrierte sie sich auf die eisige Scheibe an ihrer Stirn. Die Kälte tat schon fast weh.
Gut, dachte Lily und presste ihr Gesicht härter gegen das Glas. Die Schläfen, die Wangen. Sie öffnete die Augen, als ihre Wimpern die Scheibe streiften. Menschenleer lag der gepflasterte Innenhof da, schwarz waren all die Fenster, die auf ihn herunterblickten. Dunkel war es dort unten trotzdem nicht, der Schnee reflektierte das Mondlicht, das durch die Wolken über London sickerte.
Der Schnee. Lily richtete sich auf. Dachte an die Prozession von Kate, Rose, Gray und ihr selbst durch den ersten Schnee, der über Pipers Corner gefallen war. Dachte daran, wie sie Spuren hinterließen. Die drei Paar großen Stiefel und das eine kleinere. Der erste Schnee, die ersten Spuren.
Jetzt hatte Lily es eilig. Von hier oben konnte sie nicht genug sehen. Und sie musste sehen, ob die Eindringlinge sich verraten hatten. Schnell. Denn Spuren im Schnee waren flüchtig.
Lily wirbelte herum. Ihre Füße trommelten über die Dielenbretter, als sie zur Wohnungstür lief. Sie zwängte ihre nackten Füße in die Wildlederstiefel mit der dicken Kautschuksohle, stopfte die Pyjamahose achtlos hinterher. Das Lammfell war weich an ihren Knöcheln und Fußsohlen. Wieso war sie in der Lage, das zu bemerken? Fast wütend schlüpfte sie in ihren Dufflecoat. Erst als sie es nicht schaffte, die Knöpfe durch die Schlaufen zu zwängen, merkte sie, dass ihre Finger zitterten.
„Dann eben nicht“, knurrte Lily. Wühlte in der ersten Kommodenschublade nach Kates zweitem Schlüsselbund, griff ihren Schal, wickelte ihn sich dreimal um den Hals, trat über die Fußmatte und zog die Tür hinter sich zu.
Nachts in einem unbeleuchteten Treppenhaus zu stehen, fühlte sich falsch an. Lily hatte nie Angst im
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