Elfenschwestern
Engel, ja?“
Kate beugte sich vor und küsste ihre Tochter auf die Stirn, bevor sie die Küche verließ. Lily hörte, wie sie noch einmal leise ins Wohnzimmer ging, um nach Gray zu schauen, und dann im Badezimmer verschwand. Während Lily auf das Wasserrauschen und das Klappern der Zahnbürste gegen den Beckenrand lauschte, fragte sie sich, was ihr ein solches Unbehagen bereitete, dass sie ihre Nerven förmlich vibrieren spürte. Sie fragte es sich noch, als sie im Gästezimmer ihr Buch beiseitelegte, das Licht ausknipste und ins Dunkel starrte. Es war ihr letzter Gedanke, bevor sie schließlich einschlief.
Lily träumte wild. Überhaupt noch nie habe ich so geträumt, dachte sie, während sie träumte. Das ist ja schrecklich, ich will aufwachen. Sofort!
Aber sie wachte nicht auf. Sie stolperte weiter durch diesen Albtraum. Lichter verfolgten sie. Weiße, als Paar die Dunkelheit durchschneidend, und bunte, vereinzelt durch die Nacht schwirrend. Lily quälte sich durch undurchdringliche Finsternis und wusste, dass sie schnell sein musste, sehr schnell, um den Lichtern zu entkommen. Wenn nur nicht jeder Schritt solch unmenschliche Anstrengung erfordert hätte! Lily spürte, wie die Muskeln in ihrem schlafenden Körper zu schmerzen begannen, weil sie so verzweifelt versuchte, die Füße zu heben. Verzweifelt und vergebens. Die Lichter kamen immer näher. Blendeten Lily, hatten sie fast erreicht.
Hilfe!, dachte Lily.
Doch er, der sie retten sollte, kam nicht.
Wach auf!, beschwor sich Lily jetzt. Sie spürte, dass sie auf der Grenze zwischen Schlafen und Wachen balancierte. Aber obwohl sie glaubte, diesen Traum vielleicht nicht unbeschadet überstehen zu können, gelang es ihr nicht, die Grenze zu überschreiten und sich der realen Welt in die Arme zu stürzen.
Da hörte sie Grays Stimme.
Ihr Bruder sagte: „Tiger, hilf mir. Hilf mir doch.“
Das reichte. Mit einem Schrei fuhr Lily hoch. Ihr Herz raste so, dass sie dachte, es müsse jeden Moment zerspringen. Lily presste die Hand auf ihre Brust und versuchte gleichzeitig, sich aus den Decken und Laken zu befreien, in denen sie sich im Schlaf verfangen hatte. Weil sie es so eilig hatte, aus dem Bett zu kommen, fiel sie und landete auf ihren wunden Knien.
Der Schmerz brachte sie ein wenig zur Besinnung. Nur noch halb blind stolperte sie durch den langen schmalen Flur an Kates Schlafzimmer vorbei, dem Badezimmer, der Küche, durch deren angelehnte Tür ein Streifen Mondlicht auf die Holzdielen fiel. Die nackten Füße im Silberlicht badend, blieb Lily stehen. Direkt vor ihr lag die Tür zum Wohnzimmer. Dahinter sollte Gray schlafen und seine gleichmäßigen Gray-Atemzüge tun.
Lily hörte nichts.
Ruhig, ermahnte sie sich. Bleib ganz ruhig! Sie schloss die Augen und holte tief Luft. Da war das Blut, das in ihren Adern rauschte, da war ihr Herz, das vor Panik zu schnell schlug. Lily versuchte, es zu einem gemäßigteren Takt zu zwingen, und lauschte weiter. Das Wasser gluckste neben ihr in den Heizungsrohren, der Holzboden hinter ihr knackte, der Kühlschrank summte. Da war Kates Atem. Langsam, entspannt.
Wie kann Mum nur so friedlich schlafen?, fragte sich Lily fassungslos.
Lily warf sich nach vorne. Sie spürte, wie ihre Muskeln sich spannten, als sie sprang und die Tür aufriss. Sie bemühte sich nicht, leise zu sein, wusste, sie konnte sich auf ihre Sinne verlassen, wusste, sie hatte Gray nicht gehört. Nirgendwo.
Und richtig. Das Sofa lag leer im Mondlicht.
Gray war fort.
Auf seinem Kopfkissen lag eine weiße Rose.
Das war alles, was ihnen von ihm blieb. Das und der schwache Geruch nach Kindershampoo und Sommersonne, der noch an den Decken haftete, in die sich Gray gewühlt hatte.
Lily streckte die Hand nach der weißen Rose aus. Sie wollte wissen, dass sie nicht immer noch träumte. Wollte sich an den Dornen stechen, bis Blut floss, dunkles, bitteres Blut.
„Fass sie nicht an!“
Lily wirbelte herum.
Kate lehnte in der Tür. Sie lehnte dort so, als würde sie sonst umfallen, krallte die Finger um den Rahmen, dass ihre Knöchel hell hervortraten.
„Fass sie nicht an“, wiederholte Kate flüsternd. „Fass diese verfluchte Blume nicht an.“
„Mummy“, wisperte Lily.
Aber Kate beachtete sie nicht. Sie drehte sich einfach um und torkelte den Flur hinunter, so unbeholfen, als hätte sie gerade erst laufen gelernt.
Lily spürte die Zurückweisung. Fühlte sich klein und verlassen. Ließ sich auf das Sofa fallen, zog die Beine an, schlang die
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