Elfenschwestern
sich einen Ruck. „Wir sind wie Menschen, Lily. Pixies sind anders.“
Lily erinnerte sich an die glühenden Augen und die spitzen Zähne. „Wie Wesen aus einem Traum. Einem bösen, fürchte ich.“
Rose packte ihren Arm. „Wenn sie wirklich existieren, Lily, dann stimmen vielleicht auch Grannys andere Geschichten. Dann gibt es da draußen noch viel mehr Elfenwesen außer uns, dann ist das Volk der Fey riesig.“
Lily hatte nie daran gezweifelt.
Roses Griff wurde fester. „Und wenn Granny Recht hatte“, sprach sie weiter, „dann sind diese Glühwürmchen, die Gray gejagt haben, gefährlich.“
Lily war es, als spürte sie wieder den Stoß in ihren Rücken. Als hörte sie ihren kleinen Bruder wieder sagen: Die Glühwürmchen waren es, Tiger!
„Rose“, sagte sie langsam. „Was, wenn sie gar nicht nur Gray gejagt haben? Überleg doch mal: Gray ist nicht mehr hier, also warum sind sie es noch?“
Roses Veilchenaugen weiteten sich in plötzlicher Erkenntnis. „Weil“, flüsterte sie, „sie hinter uns her sind.“
7
O, when she’s angry, she is keen and shrewd! ~ In ihrer Wut wird sie gemein und tückisch!
„Du gibst den kauernden Tiger“, sagte Rose grimmig. „Nicht den wütenden, sondern den verborgen im Schatten lauernden. Okay, Lily?“
Ihre Schwester grinste. „Na, du bist für die Rolle ja auch gänzlich ungeeignet.“
Rose grinste zurück. Sie trug ein kurzes schwarzes Seidenkleid mit eingewebtem Silberfaden, das die Arme bloß ließ und glockig um ihre Hüften schwang. Die langen Beine schimmerten in kieselgrauen Strümpfen, die schmalen Füße steckten in braun glänzenden Reiterstiefeln, die schwarzen Haare flossen offen den Rücken hinunter, die dunkel umrandeten Veilchenaugen funkelten.
Titania, Königin der Elfen, dachte Lily. Schön wie ein Nachthimmel. Nein, Rose konnte sich nicht in den Schatten verstecken, selbst wenn sie es gewollt hätte. Schon jetzt folgten ihr alle Blicke, als die Schwestern die Bibliothek betraten.
„Du hattest Recht“, sagte Rose zufrieden. „Hier schmeißen sie ihre Party.“
„Wo sonst?“, antwortete Lily. Sie kannte das Queen’s College ziemlich gut. Immer wenn Kate an einem Wochenende nicht heimkam, sondern die Schwestern mit Gray nach London fuhren, streunte Lily über den Campus. Sie liebte die jahrhundertealten Gebäude mit den Spitzbogenfenstern und die neueren aus Backstein. Sie sehnte sich danach, mit einem Arm voller Bücher durch die Höfe zu gehen, auf dem Weg von einem Seminar zum nächsten, auf dem Flur Kommilitonen zu treffen und mit ihnen über Emily Dickinsons Gedichte zu sprechen oder über die Nachteile der sozialen Marktwirtschaft. Lily wusste genau, dass sie in zwei Jahren nach ihrem Schulabschluss an eine Universität wollte. An jedem anderen Abend hätte es ihr Herz also vor Freude höherschlagen lassen, für ein paar Stunden in dieser Bibliothek so zu tun, als gehöre sie schon dazu. Aber nicht heute. Heute war es ernst, heute ging es um Gray und, wie es aussah, vielleicht sogar um die ganze Familie Fairchild.
„Wenn wir uns trennen, haben wir bessere Chancen, Kate zu finden“, sagte Lily. „Wir treffen uns alle halbe Stunde hier am Eingang, okay?“
„Okay.“ Rose warf ihr Haar nach hinten und stolzierte davon. Lily sah zu, wie sich Köpfe nach ihrer Schwester umdrehten, als sie vorüberging. Es wird nicht lange dauern, bis sie einer anspricht, dachte Lily. Sie hatte den Gedanken noch nicht ganz ausgedacht, da trat schon ein junger Mann mit hochgestelltem Polohemdkragen auf Rose zu.
Lily seufzte. So findet sie Mum nie, dachte sie und beschloss, selbst strategisch vorzugehen.
Im Foyer und im Katalogsaal drängten sich die Menschen. Wo normalerweise arbeitsame Stille herrschte, wurde jetzt geredet und gelacht. Die vielarmigen Messingleuchter mit den gelben Glühbirnen, die von der kassettierten Holzdecke des Katalogsaals hingen, verbreiteten ein sanftes, warmes Licht, das wie geschaffen war für eine Adventsfeier. Die geschwungene Theke, an der sonst die Bücher ausgeliehen wurden, war mithilfe einiger weißer Leinentücher und Kerzenständer in ein umlagertes Büffett verwandelt worden. Die jungen Damen dahinter hatten alle Hände voll zu tun.
Die haben heute Abend bestimmt schon jede Menge Leute zu sehen gekriegt, dachte Lily und trat näher.
Zwischen Silberplatten voll Minzplätzchen und kunstvoll dekorierten Sandwichs, hinter Reihen von Gläsern und Flaschen waren zwei Studentinnen mit Ausschenken
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