Elfenschwestern
unten über seinen aufgestellten Kragen, die Knopfleiste, das Revers seines Blazers und blieb an einem Funkeln hängen. Eine Anstecknadel ragte dort aus dem Stoff. Emaille in Goldfassung. Mit einem Kopf aus Rosenblättern.
Lily gab den Versuch auf, höflich zu sein.
„Finger weg“, fauchte sie. „Sofort!“
Er wich verblüfft ein Stück zurück, lachte dann überheblich und hob seine Hände in großer Geste von ihren Schultern.
Lily floh zurück in die Dunkelheit. Und hörte mit dem Rücken gegen die nächste Bücherwand gelehnt zu, wie der in dem Polohemd sich leise murmelnd entfernte. Sie wartete noch einen Augenblick, dann folgte sie ihm.
Lily warf einen Blick nach draußen. Der Innenhof lag still und nachtdunkel da, aber auf der gegenüberliegenden Seite war oben im Dachgeschoss ein Raum der Bibliothek taghell erleuchtet. Schatten bewegten sich hinter den Fenstern.
Der Lesesaal, erkannte Lily. Er will zum Lesesaal.
Als Lily das begriffen hatte, tauchte sie wieder in den Schutz der Finsternis zwischen den Bücherregalen. Gerade noch rechtzeitig.
Atemlos lauschte sie auf Schritte, hörte Kleider rascheln und, ja, auch leise gewechselte Worte. Da bahnten sich noch mehr Menschen ihren Weg quer durch die Bibliothek. Lily duckte sich und spitzte die Ohren. Jemand näherte sich. War schon fast da! Lily sah an sich herunter. Es könnte klappen, dachte sie. Schwarzer Pullover, zwar mit großzügigem Ausschnitt, doch dafür mit langen Ärmeln, graue Marlenehose mit dunklem Fischgrätmuster. Nur ihr helles Haar könnte sie verraten. Lily duckte sich, barg das Gesicht in den Knien und schlang beide Arme um ihren Lockenkopf. Keine Sekunde zu früh.
Ein Mann ging so nah an der erstarrten Lily vorbei, dass sie nur eine Hand hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Er marschierte in dieselbe Richtung wie der Polohemdjunge.
Jetzt hatte Lily es eilig. Sie sprang auf, drehte um und lief den Gang zurück, den sie gekommen war. Auf halber Strecke nahm sie die Abzweigung nach rechts und erreichte eins der beiden alten Treppenhäuser. Im Dunkeln huschte sie die Stufen empor, öffnete oben lautlos die Tür zum Mansardengeschoss und verschwand wieder zwischen hohen Regalen.
Oh, sie liebte diese Bibliothek. Hier ging es zur englischen Lyrik des Mittelalters. Diese Bücher standen in der Nähe der Dachfenster, man konnte sich einen Band Liebesgedichte nehmen, musste nur drei Schritte gehen und konnte bequem auf einer Fensterbank kauernd lesen, zwischen zwei Strophen den Blick heben und ihn über den Innenhof schweifen lassen.
Lily blieb vor einem der Fenster stehen und öffnete einen Flügel. Kalte Nachtluft kühlte ihre heißen Wangen, als sie sich vorbeugte. Der Hof lag drei Stockwerke unter ihr. Vier kurz gestutzte winterkahle Platanen drängten sich in der Mitte, sonst war er verlassen. Lily atmete auf. Niemand würde sie sehen.
Sie zog sich auf die Fensterbank, schwang die Füße über den Sims und stieg hinaus aufs Dach.
8
Swift as a shadow, short as any dream;
Brief as the ligthning in the collied night. ~ Kurz wie ein Traum, ungreifbar wie ein Schatten,
Schnell wie ein Blitz in kohlpechschwarzer Nacht.
Lily war erfüllt von einer tödlichen Ruhe. Nein, sie würde nicht fallen. Nein, sie würde nicht auf den nassen Schindeln abrutschen, den Halt verlieren und hinunterstürzen in den Hof, der tief unter ihr lag. Sie würde leichtfüßig wie eine Katze ihren Weg finden, verborgen in den Schatten, die Beute vor Augen.
Ich bin Tigerlily, dachte Tigerlily, als sie den ersten Schritt tat. Tochter der Fey. Ich kann das.
Und sie konnte es. Sie atmete ein, atmete aus. Roch nicht nur den Winterwind, hörte nicht nur in den Platanen weit unter sich eine Krähe ihr Gefieder aufplustern, sondern spürte sich selbst von den Fingerspitzen bis hinunter in die Fußsohlen, hatte jeden Muskel unter Kontrolle.
Die Ziegel waren kalt und feucht, aber Lily wusste genau, wie sie Hände und Füße zu setzen hatte. Die Höhe machte ihr keine Angst, sie musste nicht um ihr Gleichgewicht kämpfen. Nur konzentriert und behutsam musste sie sein, dann war es doch eigentlich ein Kinderspiel, hier mitten in der Nacht über schräge Dachschindeln zu balancieren.
Links von ihr gähnte die schwarze Tiefe und dort drüben lag der Lesesaal. Er lief über die ganze Breite des Gebäudes. Seine fünf Gaubenfenster waren hell erleuchtet. Lily sah, wie sich Menschen dahinter bewegten, schwarze Scherenschnitte vor warmem Gelb.
Sie erreichte
Weitere Kostenlose Bücher