Elfenschwestern
Tür auf und lauschte auf Roses schnelle Schritte, die verrieten, wie die Schwester leichtfüßig treppauf stürmte. Da kam Rose auch schon um die Ecke geschossen.
Die porzellanweißen Wangen glühten, weil Rose gerannt war. Die veilchenblauen Augen funkelten unter der dicken violetten Angoramütze, die lange schwarze Mähne ergoss sich ungebändigt über Roses grünen Tweedmantel mit dem breiten Gürtel.
Wortlos fielen sich die Schwestern um den Hals.
Das war etwas anderes, als bei Jolyon Sicherheit und Vergessen zu suchen. Mit Rose teilte Lily dieselbe Angst.
Lily löste sich von ihr. „Wehe, du lässt mich wieder allein“, sagte sie. Und zog die Schwester in die Wohnung.
Sie lagen zusammengerollt auf Kates Bett, wie sie es schon als Kinder getan hatten. Knie an Knie, zwei Hände verschränkt, die Gesichter einander zugewandt. Roses lange schwarze Haarflechten verwoben sich auf der weißen Bettwäsche mit Lilys dunkelgoldenen, noch feuchten Locken.
Rose zeichnete mit einem schlanken Zeigefinger die Muster im Kopfkissenbezug nach. Die Lochstickerei. Es war schöne Wäsche.
„Meinst du, Kate bringt oft Männer hierher?“, fragte Rose nachdenklich.
„Rose!“
„Was? Glaubst du nicht, dass sie es tut? Hier in London hat sie ihre Ruhe. Muss uns ihre Kerle nicht vorstellen und ihren Kerlen auch nicht von uns erzählen.“
„Ehrlich gesagt, habe ich noch nie darüber nachgedacht.“
„Wirklich nicht? Ich oft. Kate ist ein Feger. Heiß. Sexy. Für einen Menschen.“
Lily betrachtete ihre Schwester. Rose sagte oft solche Dinge. Lily nie. Lily dachte solche Dinge nicht mal: Menschen. Elfen. Sie. Wir.
„Du bist zur Hälfte auch ein Mensch“, erinnerte sie Rose.
Rose lächelte ihr Raubtierlächeln. Blendend, mit kleinen spitzen Eckzähnen. Schön, aber gefährlich.
„Du weißt das“, beschuldigte Lily ihre Schwester. „Du willst es mich nur immer sagen hören. So als würde es dadurch wahrer.“
Rose wedelte Lilys Einwand beiseite. „Reden wir jetzt über Gray?“, fragte sie, tödlich direkt wie immer.
Lily schloss kurz die Augen. Sie konnte es ja kaum ertragen, an Gray zu denken.
„Die Fey haben ihn?“
Lily nickte.
„Erzähl!“
„Es waren mindestens zwei“, begann Lily. „Sie riechen nach Herbstlaub und sind gegen Grannys Schutzriten immun. Gray fühlte sich von Glühwürmchen verfolgt. Er glaubt, sie hätten mich vor das Auto gestoßen. Das hat ihn richtig verstört.“ Lily zwang sich, an die letzten Stunden mit ihrem Bruder zu denken. „Und es hat ihn schrecklich aufgeregt, dass wir seine Glühwürmchen nicht ernst genommen haben.“ Sie schluckte mühsam. „Ich hätte etwas ahnen müssen.“
Rose runzelte die glatte Stirn. „Was denn bitte? Glühwürmchen? Da fällt mir auch nichts zu ein.“
„Granny wüsste sicher, was Gray gesehen haben könnte“, sagte Lily.
Rose schwieg. Sie redete nicht gerne über ihre Großmutter. Genauso wenig wie über ihren Vater.
Lily würde jetzt trotzdem von ihm sprechen. „Meinst du, Dad wäre …“, fing sie an.
Aber Rose ließ Lily los und hob abwehrend beide Hände.
Lily setzte sich abrupt auf. „Du bist wie Mum“, sagte sie plötzlich aufgebracht. „Sie spricht nie über Dad. So als könnte sie ihn besser vergessen, wenn sie ihn totschweigt. Und jetzt macht sie dasselbe mit Gray.“
Sie wollte, dass ihre Schwester sagte: „Nein, Lily. Sei nicht verrückt, Lily.“ Rose aber knetete schweigend die Spitze des Kissenbezugs zu kleinen Stoffklumpen.
„Rose.“ Lily ließ sich wieder zurücksinken und griff nach Roses Hand. „Was sollen wir denn jetzt tun?“
Rose schaute sie mit brennenden Augen an. Sie hatte die Kiefer zusammengebissen und die Finger in die Bettwäsche gekrallt. Lily verstand. Rose wollte losstürmen, den Feind stellen und Gray seinen Klauen entreißen. Aber weil der Feind sich nicht zeigte, machte er sie hilflos. All die Wut und Entschlossenheit fanden kein Ventil, verwandelten sich stattdessen in Frustration.
Lily bekämpfte die eigene Enttäuschung. „Wir reden mit Mum, wenn sie wieder da ist, ja?“, sagte sie. „Vielleicht erreichen wir zusammen etwas bei ihr.“ Sie sprach sich selbst genauso viel Mut zu wie ihrer Schwester.
Aber Rose lockerte ihren Griff. „Okay.“
Lily rutschte näher an ihre Schwester heran, suchte Trost in ihrer Gegenwart. Rose seufzte einmal tief, ansonsten schwiegen beide, lauschten auf den Atem der anderen und auf ihre Herzen, die im selben Takt schlugen. Erst noch
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