Elfenschwestern
Daneben Kate mit tiefen Schatten unter den Augen. Und daneben Eileen.
Lily schluckte. Eileen war Kates beste Freundin. Es war für Lily ein ganz vertrauter Anblick, wie Eileen zu Hause im Bluebell Cottage am Küchentisch Geschichten von der Uni erzählte oder mit einem Glas Rotwein in der Hand und den Füßen auf einem Stuhl Hausarbeiten korrigierte. Dass sie hier dabei war, fühlte sich wie Verrat an. Lily knirschte unwillkürlich mit den Zähnen. Sie würde schon herausfinden, was los war.
„Wir müssen uns entscheiden.“
Die Gespräche versiegten, als habe jemand einen Hahn zugedreht. Alle am Tisch blickten nach links. Am Kopfende thronte ein Mann mit strengem Gesicht, grau gesprenkeltem Haar und einer randlosen Brille auf der knochigen Nase. Es war der Mann, der eben T. W. Webber ermahnt hatte. Finch-Hutton, der Dekan.
„Die Lage ist ernst“, sprach der Dekan weiter und nahm die Anwesenden einen nach dem anderen ins Visier. „Es ist geschehen, was wir all die Jahre befürchtet haben, was wir zu verhindern versucht haben. Der Junge ist in die Hände der Fey gefallen.“
Der Schock ließ Lily fast vom Dach fallen. Der Dekan hatte Fey gesagt! Und alle hatten es gehört! Und keiner protestierte. Im Gegenteil: Sie nickten, teilweise grimmig und teilweise bekümmert. Lily konnte es einfach nicht fassen.
„Wir sind vergangene Nacht in der festen Absicht auseinandergegangen, heute eine Entscheidung zu fällen“, sagte Finch-Hutton. „Ich schlage Folgendes vor: Wir konsultieren unsere Aufzeichnungen und stellen eine Liste der Yorkschen Besitztümer zusammen. Männer und Frauen aus unserer Mitte werden dort eingeschleust, damit sie beobachten und uns berichten können. Sollte Grayson irgendwo sein, werden wir es so sicherlich erfahren. Das ist zwar eine ungewöhnliche, aber doch akzeptable Vorgehensweise für uns.“
Beifälliges Gemurmel erhob sich ringsum.
Kate allerdings verknotete in einer verzweifelten Geste ihre Hände. Eileen legte ihr einen Arm um die Schultern.
Davis warf den beiden Frauen einen beunruhigten Seitenblick zu.
„Beobachten, Sir?“, fragte T. W. Webber. „Und dann?“
Es war, als hole der ganze Lesesaal entsetzt Luft.
„Und dann?“, wiederholte Dekan Finch-Hutton mit seiner schneidenden Stimme. „Wie meinen Sie das, Webber, und dann? Es ist unsere Aufgabe, zu beobachten. Das ist der Grund, weshalb unsere Gemeinschaft existiert.“
Webber beugte sich vor, als wolle er etwas erwidern, doch Kate kam ihm zuvor.
„Ich kann nicht länger nur zuschauen“, stieß sie hervor. „Ich kann es einfach nicht, Lionel. Bloßes Beobachten bringt mir meinen Jungen nicht wieder.“
Erregtes Stimmengewirr folgte auf ihren Ausbruch.
„Versteht ihr denn nicht?“, rief Kate. „Ich kann mein Kind nicht im Stich lassen.“
Jemand schnaubte verächtlich. „Also wirklich, Professor Fairchild. Er ist nur ein Fey. Er ist nicht Ihr Sohn.“
Es traf Lily mitten ins Herz.
Auch Kate zuckte zusammen, als habe sie einen Hieb erhalten. „Porter“, flüsterte sie. „Wie können Sie nur …“ Dann schienen ihr die Worte zu fehlen.
Nicht so Eileen. Sie erhob sich halb von ihrem Stuhl, mit Augen so flammend und wild wie ihr rotes Kraushaar.
„Kate hat Gray aufgezogen“, sagte Eileen heftig. „Natürlich ist er ihr Sohn. Sie sollten den Mund halten, Chapman, wenn Sie nichts Qualifiziertes beizutragen haben.“
Porter Chapman wurde rot. Lily konnte von hinten sehen, wie die Hitze seinen Nacken hinaufstieg. Trotz des aufgestellten Polokragens. Ich wusste, ich kann ihn nicht leiden, dachte sie angewidert.
Lionel Finch-Hutton bat mit erhobener Hand um Ruhe.
„Katherine“, sagte er und rückte seine Brille zurecht, eine Geste, die ihn plötzlich wie den dozierenden Universitätsprofessor aussehen ließ, als den Lily ihn kannte. „Ich weiß, ich muss dich nicht daran erinnern, was es seit Jahrhunderten bedeutet, ein Chronist zu sein. Aber vielleicht sollte ich dich und uns alle daran erinnern, dass du vor acht Jahren zu uns gekommen bist. Auf der Suche nach Unterstützung, nach Rat. Wir waren für dich da, als du uns brauchtest. Und genauso sind wir heute für dich da. Als die Chronisten, zu denen du damals kamst.“
Kate stand auf. Obwohl ihr Kleid oft getragen und ihr Gesicht von Erschöpfung gezeichnet war, war sie schön. Wie in der Nacht zuvor, als sie plötzlich mit brennenden Augen aus ihrer Lethargie erwacht war, schien sie die Verzweiflung abzuschütteln und zu einer anderen,
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