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Elfenschwestern

Elfenschwestern

Titel: Elfenschwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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das Ende ihres Bibliotheksflügels. Zum ersten Mal, seit sie auf das Dach hinausgestiegen war, erlaubte sie sich eine Verschnaufpause.
    Und als sie dort so kauerte, die Knie gebeugt, die Ohren gespitzt, den Arm um einen Kamin geschlungen, sah sie ihn.
    Er stand auf dem Dachfirst jenseits des Hofes, als gehöre er dorthin. Aufrecht, die Fußspitzen nur Millimeter vom Abgrund entfernt, die Hände lässig in die schmalen Hüften gestemmt. Im Mondlicht leuchtete sein helles Haar silbern, seine Haut schimmerte. Er wandte den Kopf und sah Lily an.
    Lily duckte sich tiefer, fühlte ihr Herz schneller schlagen, ließ ein leises Knurren über ihre Lippen kommen.
    Unglaube malte sich auf seinem Gesicht ab.
    „Glaubst du etwa, du bist der Einzige, der klettern kann?“, murmelte Lily.
    Überraschenderweise grinste er und schüttelte den Kopf.
    Lily blinzelte. Hatte er sie gehört? Das konnte doch nicht sein. Oder?
    „Was willst du hier?“, flüsterte sie.
    Er sah zu der Versammlung im Lesesaal hinüber, zuckte die Achseln und wandte sich wieder ab. Und zeigte auf Lily.
    Ihr lautes Fauchen erschreckte sie selbst. Es scheuchte die Krähe auf, die laut schreiend davonflog.
    Er aber dort drüben auf dem Dachfirst warf den Kopf in den Nacken und lachte.
    Dann sprach er. Leise, aber für sie so deutlich hörbar, als flüstere er direkt in ihr Ohr. „Interessant“, sagte er mit einer Stimme, die ihr eine Gänsehaut über die Arme rieseln ließ. Weil sie so kühl und klar wie Morgenluft im Frühherbst war? „Äußerst interessant.“ Und er tat einen Satz, der ihn eigentlich hätte in die Tiefe stürzen lassen müssen, und war verschwunden.
    Lily blieb mit wild klopfendem Herzen zurück. Sie wusste, was sie gesehen hatte. All die Jahre, dachte sie. All die Jahre haben wir wie Menschen unter Menschen gelebt. Weder Hauskobolde noch Wassergeister haben wir gesehen, nicht das kleinste Feenkind, nicht das winzigste Pixie. Und jetzt scheint es, als sei da ein Tor aufgestoßen worden, durch das all die Fey nur so in unser Leben strömen.
    Einen Moment presste Lily die pochende Schläfe gegen die kühlen Ziegel. Dann riss sie sich zusammen. Langsam und geduckt schob sie sich weiter voran. Überwand die Kehle zwischen zwei Dächern und arbeitete sich von unten an die äußerste der Gauben heran. Tastete mit den Fingerspitzen nach dem Fensterbrett, suchte mit ihren Kautschuksohlen Halt und zog sich langsam hoch.
    Vor ihr lag der Lesesaal.
    Oh, sie hatte dort auch schon gesessen, an dem riesigen alten Eichentisch, der in regelmäßigen Abständen mit kleinen, grün beschirmten Leselampen bestückt war. Am liebsten saß sie mit dem Rücken zur Bücherwand und dem Blick zum Innenhof, links und rechts von sich lesende Studenten. Beobachtete, wie tagsüber die Sonne Muster auf die Holzplatte malte und abends die Lampen ihr warmes Licht spendeten. Lauschte dem Kratzen von Füllfedern oder Kugelschreibern auf Papier, dem leisen Klappern einer Laptoptastatur und immer wieder dem Umblättern von Buchseiten. Genoss die Stille.
    Heute wurde im Lesesaal geschrien.
    Lily hörte die Wortgefechte durch die geschlossenen Fenster nur gedämpft, aber sie sah die Menschen wild gestikulieren. Ein Mann schlug mit der geballten Faust auf den Tisch. Sein Nachbar hob missbilligend die schweren Brauen. Es war der falsche Sergeant, T. W. Webber.
    Lily zuckte zusammen.
    Und Webbers Kopf fuhr herum.
    Lily duckte sich weg. Auf allen vieren kauerte sie im Schatten der Gaube.
    Hatte Webber sie gesehen? Würde er glauben, was er gesehen hatte? Hoffentlich nicht!
    Lily wartete mit klopfendem Herzen. Als sich über ihr das Fenster öffnete, hätte sie vor Schreck fast den Halt verloren. Ein Gedanke raste ihr durch den Kopf: Und ich habe nicht einmal etwas erfahren!
    „Webber!“, tönte eine scharfe Stimme von drinnen. „Was zum Teufel tun Sie da?“
    „Ach“, sagte Webber direkt über Lily. „Ich finde, die Gemüter haben sich genug erhitzt, meinen Sie nicht auch, Finch-Hutton?“
    Lily hörte ihn atmen; langsam, ruhig, als bewege er sich nicht. Oh je, er muss nur nach unten schauen, dachte sie und presste sich enger an die Ziegel.
    Aber Webber schien nicht nach unten geschaut zu haben. Er verschwand – und ließ das Fenster offen.
    Lily jubelte innerlich. Vorsichtig richtete sie sich wieder auf, hob die Augen über das Fenstersims und schaute nach drinnen.
    Webber hatte wieder seinen Platz ihr gegenüber eingenommen. Neben ihm saß Davis mit makelloser Frisur.

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