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Elfenschwestern

Elfenschwestern

Titel: Elfenschwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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Schrei schreckte die Blesshühner im Schilf auf. Mit hektischen Flügelschlägen schwangen sie sich hinauf in den grauen Himmel.
    Lily schlug entsetzt die Hände vor den Mund. Was habe ich getan?, dachte sie verzweifelt. Wenn mich jemand gehört hat? Wenn jetzt jemand kommt?
    Ja, es hatte sie jemand gehört. Glory to the new born king schallte es nun viel lauter über den See. Klarer. Triumphierend.
    Lily musste lachen. „Ich bin hier, Gray, ich bin hier“, flüsterte sie. „Und ich komme dich holen.“ Sie begann am Ufer entlangzulaufen. Folgte dem Klang und dem Geruch und ahnte, wohin die sie führen würden.
    Der kleine lichtgelbe Tempel im Schilf war eine Verbeugung vor der Baukunst der alten Griechen. Der Baumeister von Englefield Park hatte eine Handvoll weiß gepinselter Säulen mit Akanthusblättern verziert und quer darüber einen mit einem Relief geschmückten Dreiecksgiebel gesetzt. Von dort oben schauten Nymphen herab, die den Gestalten des Englefield-Park-Brunnens ähnelten, mit ihren runden Armen Rösser umhalsten und eventuellen Besuchern verschwörerisch zulächelten. Normalerweise flanierte man im Säulengang auf und ab, genoss geschützt von Regen und Sonne den Blick über den See, den dahinterliegenden Park und den heute dunkel aus dem Nebel dräuenden Wald. Doch Lily rannte. Sie hastete sogar so schnell über den Steinboden, dass sie ausrutschte. Sie sah nach unten. Der hereingewehte Schnee breitete sich nicht als unberührte weiße Decke aus, sondern war zerwühlt und überfroren, weil jemand immer wieder dieselbe Strecke zurückgelegt hatte: vom einen Ende des Säulengangs zu der schweren dunklen Eingangstür.
    Lily packte den Knauf und drehte. Verschlossen. Klar. Doch ihre Kehle wurde nur für eine Sekunde eng, entschlossen trabte Lily weiter, um das Gebäude herum. Sie fand keinen anderen Zugang und auch kein Fenster, aber als sie hinter dem Tempel im Schnee stand, den Kopf in den Nacken gelegt, sah sie, dass eine Balustrade um das flache Dach herumlief. Von dort blickte jemand mit goldenem Haar zu ihr herunter.
    Grayson.
    Lily blieb das Herz stehen. Als es wieder zu schlagen begann, tat es das mit erhöhter Geschwindigkeit. Sie öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton hervor.
    „Tiger“, sagte Grayson. Er sagte es leise, doch Lily hörte es deutlich dort unten im Schnee, und dieses Wort, so leise es auch ausgesprochen war, hallte dröhnend in ihr wieder.
    „Ich komme“, versprach sie mit belegter Stimme. „Gray, ich komm dich holen.“
    Er nickte. „Ich weiß.“
    Lily trat dicht an die Rückwand heran, fuhr mit den Händen über das Mauerwerk. Die Fugen sprangen weit zurück, man könnte Halt zwischen den Steinen finden. Alistair käme hier problemlos hoch, überlegte Lily und erinnerte sich an die Nacht im Bibliothekshof, an den schmalen, wendigen Schatten, der Alistair gewesen war. Fassadenkletterer, hatte sie damals gedacht. Wir sind uns doch ähnlich, fand Lily jetzt. Er ist ein Jäger, ich bin ein Jäger. Ich kann das auch.
    Sie begann den Aufstieg. Suchte mit den Fingerspitzen Halt, verfluchte ihre noch immer empfindlichen Handflächen und die Pixies, die sie verletzt hatten, und die Tanten, die es ihnen befohlen hatten, und nutzte die heiße Wut. Ließ sie durch ihre Glieder strömen und schöpfte Kraft daraus. Tiger können klettern, ermunterte sie sich. Und kletterte. Arbeitete sich Steinreihe für Steinreihe nach oben, erreichte die untere Kante der Balustrade, stieg weiter, spürte kleine Hände in ihrem Haar, fühlte dann, wie sie sich in den Stoff über ihren Schultern krallten.
    Als könnte er mich halten, dachte Lily liebevoll. Sie zog sich in einer geschmeidigen Bewegung hoch und schwang sich über die Brüstung.
    Da waren sie nun.
    Die Tatzengeschwister.
    Erst standen sie stumm und sahen sich an. Dann bewegten sie sich gleichzeitig. Grayson sprang Lily an den Hals, Lily warf die Arme um Grayson.
    „Oh Gott“, murmelte Lily in daunenweiches Haar. „Dass ich dich wiederhab.“
    Gray sagte nichts. Er drückte sie nur, so fest er konnte, an sich.
    Lily wusste nicht, wie lange sie so standen. Schließlich stellte sie ihren kleinen Bruder behutsam wieder auf die Füße, hielt ihn ein Stück von sich weg und blickte ihm forschend ins Gesicht. „Geht es dir gut? Bist du verletzt? Haben sie dir etwas getan?“
    Gray schüttelte immer wieder den Kopf. Und lächelte. Lächelte! Sah gar nicht ängstlich aus. „Ich wusste, dass du kommst, Tiger“, erklärte er fast

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