Elfenschwestern
sein, als nur ein Paar spitze Ohren zu haben, erkannte Lily und sprintete los. Sie hörte ihr eigenes Keuchen, den Schnee unter ihren Füßen knirschen – und ihre Verfolger.
Sie waren dicht hinter ihr. Auch wenn Lily ein Tiger war, ein Jäger der Wälder, waren diese beiden immer noch Elfen. Erwachsene Elfen. Mit ihren eigenen Talenten.
Der eine Fey war langsam, der andere nicht. Als Lily den See schon fast umrundet hatte, holte er sie ein. Er packte sie mit der Kraft eines Grizzlybären und schüttelte sie wie ein Tier.
Lilys Zähne schlugen schmerzhaft aufeinander.
„Keinen Ton“, befahl er ihr. Und stellte sie dann ohne Umstände wieder sicher auf beide Füße.
Jetzt hatte auch der andere Fey sie erreicht, der größere, breitere. Er schnaufte ein bisschen, strich sich das schwarze Haar aus der Stirn und nahm dann seinen Platz neben Lily ein. Er umschloss ihren linken Oberarm, dass es sich anfühlte, als steckte er in einem Schraubstock.
Wenn uns doch nur jemand sehen würde, dachte Lily, während die beiden sie zum Haus eskortierten. Wenn jemand sehen würde, wie sie neben mir gehen, wie fest sie mich halten!
Ja, was dann? Die beiden hier gehörten zum Duke. Und der Duke war nicht nur der Oberherr der Yorks, nein, er, der auf seinem Grund und Boden den Debütantinnenball für die Töchter des englischen Hochadels abhielt, war ja wohl so etwas wie der heimliche Herrscher der Lords. Sicher würde niemand etwas unternehmen, um mir zu helfen, dachte Lily bitter. Es sind nur Rose und ich, die wir uns gegen ihn stellen.
Sie hatten Lily in die Bibliothek gebracht und allein gelassen. Böse starrte sie auf den Rücken des schmalschultrigen Fey, der vor der Terrassentür Stellung bezogen hatte und dort in sein Mobiltelefon sprach. Der andere Fey stand Wache auf dem Flur. Auch ohne Erklärung war ihr Verhalten eindeutig: Lily hatte hierzubleiben.
Sie zog ihren Mantel aus, sank vor der Schrankwand mit den leuchtend bunten Buchrücken in einen Ohrensessel, umklammerte mit den Händen ihre zitternden Knie und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Es funktionierte nicht. Sie sah immer Graysons Gesicht vor sich, wie es aufleuchtete, als er sie entdeckte, spürte seine schmalen Arme um ihren Hals, als er sie fest an sich drückte. Und hatte furchtbare Angst, ihren kleinen Bruder jetzt wieder zu verlieren. Vielleicht nahm man ihn ihr in diesem Moment schon weg! Vielleicht hatte der Fey mit dem Handy schon seinen Abtransport befohlen! Dass Lily nun wusste, wo Grayson versteckt gehalten wurde, war für seine Entführer sicher viel zu riskant.
Am liebsten wäre Lily aufgesprungen und durch den Raum getigert, aber sie wollte nicht riskieren, dass der Kerl auf der Terrasse sich umdrehte und ihre Unruhe erkannte. Also blieb sie sitzen. Beobachtete, wie das graue Morgenlicht heller wurde und sich der Nebel über dem See langsam auflöste. Lauschte auf das Ticken einer Standuhr mit blattgoldenen Ziffern am anderen Ende der Bibliothek. Der Fey auf der Terrasse verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, der Fey draußen auf dem Flur hustete einmal laut. Die Uhr tickte weiter, die Sonne stieg höher. Lily wollte laut aufschreien vor Frustration. Diese Warterei machte sie schier verrückt.
Als endlich die hohe Tür aufging und der Duke hereinkam, war Lily fast erleichtert. Dieses Gefühl verflog allerdings sofort, als der Duke seinen unheimlichen, stechenden Blick auf sie richtete.
„Miss Fairchild“, sagte er und blieb vor ihr stehen, die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben. In dieser Pose erinnerte er Lily an seinen Sohn – bis er die schmalen Lippen zu einem zynischen Lächeln verzog und die Ähnlichkeit verschwand. „Welche Freude.“
Lily schürzte die Oberlippe und knurrte.
Der Duke blinzelte überrascht. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass sie so offen ihre Feindseligkeit zeigen würde. Nachdenklich legte er den Kopf auf eine Seite, genau wie Alistair es immer tat.
Tatsächlich, wie der Vater so der Sohn, stellte Lily fest. Einer von beiden ist so falsch wie der andere. Tief in ihrer Magengrube regte sich ein ihr bis dahin völlig fremdes und erschreckendes Gefühl: Hass. „Die Pest auf eure beiden Häuser“ , zischte Lily. Sie beugte sich vor, ihre Finger krümmten sich zu Krallen, ihre Zähne waren entblößt. Ihr nächstes Knurren kam tief aus ihrer Kehle.
„So“, sagte Evelyn York gedehnt, „eine Wildkatze also. Gefällst du meinem Sohn deshalb so? Verrate mir doch
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