Elfenschwestern
triumphierend.
Lily hätte heulen mögen. „Ich wünschte nur, ich wäre schneller gewesen“, sagte sie heiser.
„Ist schon gut“, sagte er. „Es war okay, bis die ganzen Gäste auftauchten. Seitdem lassen sie mich nicht mehr raus.“
„Nicht mehr raus?“, wiederholte Lily und ballte die Fäuste.
Gray missverstand sie. „Oh, so langweilig war es auch wieder nicht“, versicherte er ihr. „Es gibt einen Fernseher. Und viel zu lesen. Aber das Beste ist: Du kannst nachts, während du in deinem Bett liegst, die Sterne beobachten. Guck!“ Er deutete mit einem kleinen Kinderfinger.
Und Lily sah, dass ein Teil der Dachterrasse verglast war. Durch die Bodenfenster blickte sie hinab in den kleinen Raum, der das Gefängnis ihres Bruders war. Sie konnte einen bunten Teppich erkennen, ein großes Bett und eine Wendeltreppe, die in engen Windungen nach oben führte.
„Im Sommer spannen sie hier ein Sonnensegel“, erklärte Grayson so eifrig, als beschreibe er ein Feriendomizil. „Ein gestreiftes. Und dann kann man im Schatten sitzen und den Nymphen beim Schwimmen zusehen.“
Lily drehte sich der Kopf. „Woher weißt du das denn?“
„Hat Alistair erzählt.“
Alistair. Lily musste nach der Brüstung greifen, weil sie sich plötzlich nicht mehr sicher auf den Beinen fühlte. „War er hier?“, stieß sie hervor.
Grayson schüttelte den Kopf. Zum ersten Mal sah er traurig aus. „Seit ich von dem großen Haus hergezogen bin, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Aber am Anfang war er oft mit mir zusammen, weißt du, direkt nachdem er mich aus London hergefahren hat.“
Alistair.
Dieser Hund. Dieser verdammte, verfluchte Schweinehund. Oh, es gab keine Worte, die ausreichten, um diesen Kerl zu beschimpfen. Lily wollte schreien vor Wut und Frustration, aber das hätte Grayson erschreckt. Sie holte tief Luft. „Was ist denn eigentlich passiert?“, fragte sie heiser. „In Mums Wohnung?“
„Alistair hat mich geweckt und gesagt: Keine Angst, Grayson. Du bist in Gefahr, aber ich bringe dich in Sicherheit.“
Du bist in Gefahr? Alistair war die Gefahr! Alistair samt seines Weißrosenclans.
„Ich habe sofort gewusst, dass er die Glühwürmchen meint“, fuhr Grayson fort. „Es sind Pixies, echte Pixies! Wusstest du das? Ja, und dann ist Ali mit mir aus dem Fenster gestiegen.“ Graysons Augen glitzerten bei der Erinnerung daran. Lily allerdings wurde bei der Vorstellung, dass Alistair mit ihrem kleinen Bruder auf dem Rücken aus dem vierten Stock geklettert war, beinahe schlecht.
Grayson griff nach ihrer Hand. „Der andere Fey hat gesagt, ihr kommt nach.“ Plötzlich zitterte seine Unterlippe. „Aber ihr seid nicht nachgekommen.“
„Oh, mein Tatzentierchen! Jetzt bin ich ja da. Und uns geht es gut! Alles ist gut.“ Lily drückte ihren Bruder an sich, fühlte, wie ihn ein unterdrückter Schluchzer schüttelte, und verfluchte stumm die Familie York.
Plötzlich schallte eine männliche Stimme über die Terrasse: „Halte dich fern von unserem Prinzen.“
Lilys Kopf flog hoch.
Ein Fey trat von der obersten Treppenstufe, ein zweiter folgte. Lily konnte sich nicht erinnern, die beiden dunkelhaarigen Männer schon einmal gesehen zu haben.
„Lass ihn los“, sagte der erste Fey, als sei Lily hier der Eindringling, der Feind, vor dem man Gray schützen musste.
„Nein.“ Die scharfe Antwort hatte sie automatisch gegeben. Aber sie fragte sich nun ebenso unwillkürlich, ob es eine gute Idee war, sich hier mit Grayson fangen zu lassen. Sie musste doch Alarm schlagen. Hilfe holen! Auch wenn es ihr das Herz brach. Lily fällte eine Entscheidung.
Sie presste den Mund über Graysons Ohr in Lockenhaar: „Ich komme wieder“, flüsterte sie. „Immer.“
Graysons Amethystaugen waren vertrauensvoll auf sie gerichtet. „Ich weiß“, wisperte er zurück.
„Lass ihn los“, wiederholte der erste Fey, der schmalschultrige von den beiden, und kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu.
Lily wich zurück. Mit der Hüfte stieß sie an die Steinbrüstung. Sie riskierte einen Blick nach unten. Ein Geschoss. Höchstens vier Meter.
Tiger können mehr als klettern, dachte sie. Und sprang.
23
I say I love thee more than he can do. ~ Ich sag, ich liebe dich viel mehr als er.
Dieser Sprung hätte sie töten sollen. Oder zumindest verletzen. Hatte sie das nicht schon einmal gedacht? Ja, in jener Nacht, in der Alistair den Satz vom Bibliotheksdach hinab in die Tiefe getan hatte. Es ist doch mehr dabei, ein Elf zu
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