Elfenwinter
Der Jarl dachte an einige der unschönen Geschichten, die man sich über die Elfen erzählte. Dass sie Kinder stahlen. Auch ihn hatten sie geholt. Würde Silwyna so etwas tun? Es gab einmal eine Zeit, da hatte er geglaubt, in ihren Augen lesen zu können, sie zu kennen. Jetzt wusste er es besser.
»Bitte, Vater! Sag doch ja«, drängte Ulric.
»Wir sehen uns unten am Fjord«, brummte er schließlich. Die Elfen waren ihn damals nicht ohne Grund holen gekommen. Sein eigener Vater, Mandred, hatte ihn an Emerelle verkauft. Silwyna würde gut auf Ulric Acht geben.
Die Elfe reichte ihm ihren Bogen, den Köcher und die Jagdtasche, die sie über die Schulter geschlungen trug. Voller Begeisterung kletterte Ulric auf ihren Rücken. Er schlang seine Beine um ihre Hüften und legte ihr die Arme um den Hals.
»Du solltest deiner Mutter nichts von diesem Ausflug erzählen«, ermahnte ihn Alfadas.
Ulric grinste verschwörerisch.
»Mach dir keine Sorgen, ihm wird nichts geschehen«, sagte Silwyna in der Sprache ihres Volkes. »Ich bringe ihn dir wohlbehalten zurück.«
Es war ein seltsames Gefühl, Ulric mit der Elfe ziehen zu sehen. Mit jener Frau, die Alfadas einmal bis zum Wahnsinn geliebt hatte. Sie lief mit dem Jungen in den Wald hinein und war binnen Augenblicken verschwunden.
Langsam lenkte der Jarl seinen Grauen den Hang abwärts, dem Fjordufer entgegen. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis er das Wasser erreichte. Ulric und Silwyna erwarteten ihn schon. Sein Sohn kam ihm strahlend entgegengelaufen. Er wirkte jedoch ein wenig blass. »Wir haben ein Eichhörnchen überholt«, jubelte er. »Und jede Menge Nester haben wir gesehen. Silwyna hat mit einem Raben gesprochen.«
Alfadas zog seinen Sohn vor sich in den Sattel und gab der Elfe ihre Waffen zurück. Silwyna wirkte bedrückt. »Einen guten Jungen hast du da großgezogen«, sagte sie, sonst nichts.
Eine Stunde später erreichten sie die Fähre und ließen sich nach Honnigsvald übersetzen. Die drei Brüder, denen Alfadas beim letzten Mal begegnet war, waren verschwunden. Eine geschwätzige Alte ruderte sie in einem flachen Nachen über den Fjord. Verstohlen blickte Alfadas in die dunklen Fluten. Tief unter dem Kiel des Bootes schimmerte es silbern. Hunderte Fische schwammen nach Norden.
Am anderen Ufer hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Ein großer, vierschrötiger Krieger mit kurz geschorenem Haar stand auf einem Felsblock und sprach zu denen, die dem Ruf des Königs gefolgt waren. Der Jarl kannte den Mann. Es war Ragni, einer der Leibwächter des Königs. Der Krieger winkte ihm zu. »Dort kommt der Herzog! Seht ihn euch an! So sieht ein Sieger aus!«
Alle drehten sich um. Alfadas erkannte einige altgediente Kämpen in der Menge, Gefährten vergangener Kriegszüge. Doch es waren auch viele Männer dabei, die als Waffen nur umgeschmiedete Sensen, Hämmer oder Äxte trugen. Verarmte Bauern, Tagelöhner, Handwerker, die ihre Geschäfte verloren hatten. Junge Männer, die das Abenteuer suchten, Laufburschen. Auch die drei Brüder von der Fähre waren unter ihnen. Das war kein Heer. Es war eine Versammlung der Hoffnungslosen, jener, die im Fjordland unter dem alternden König Horsa nichts mehr zu gewinnen hatten.
»Werden die alle auf dich hören, Vater?«
»Das hoffe ich doch.« Alfadas schwang sich aus dem Sattel, gab Silwyna die Zügel und sagte dann in ihrer Sprache:
»Geh mit dem Kleinen zum Wald dort drüben. Ich möchte nicht, dass er hört, was ich den Männern zu sagen habe.«
Die Elfe nickte. Alfadas musterte sein Heer. Kaum siebenhundert Mann hatten sich hier versammelt, schätzte er. Ihm fiel eine Gruppe von Kriegern auf, die in Ketten gelegt war. Ein schwarzhaariger Kerl, dem ein Schwertstreich die Nase zerschnitten hatte, war die auffälligste Gestalt unter ihnen. Noch ein alter Bekannter, dachte der Jarl. »Na, Lambi. Hattest du wie-der einmal Ärger mit den Weibern?« Die Männer ringsherum grinsten.
»Wenn der König Weiber geschickt hätte, um mich herzubitten, dann wäre das hier nicht nötig gewesen.« Er hob die Hände, sodass man die schweren Eisenringe sehen konnte, mit denen er gefesselt war. »Lass mich laufen, Alfadas. Dann werde ich den grünen Jungs hier auch nicht erzählen, was ein Winterfeldzug bedeutet.«
»Wenn ich dich gehen ließe, hätte ich die Kampfkraft meines Heers halbiert«, entgegnete der Jarl leichthin. »Wir wollen doch nicht, dass es dieser prächtigen Truppe so ergeht wie deiner Nase. Wie konnte das nur
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