Elfenwinter
sich herüber. Mit einer knappen Geste deutete sie zur Insel. »Da haben unsere Späher heute Mittag die Spur der Flüchtigen aufgenommen und wieder verloren«, erklärte die Schamanin. »Es gibt dort einen großen Albenstern. Ich hatte geahnt, dass Emerelle und ihre Getreuen an einen Ort wie diesen kommen würden. Sie waren schnell.«
»Werden wir sie dann noch stellen können?«
Skanga bedachte ihn mit einem ärgerlichen Blick. »Zweifelst du an meinen Fähigkeiten? Die Elflein haben sich mit dieser Flucht ein wenig Zeit erkauft, mehr nicht. Im Labyrinth der Al-benpfade können sie tausend Wege eingeschlagen haben. Ich werde einen besonderen Zauber wirken müssen… « Sie sah zu den beiden Elfen. »Und die hochverehrten Elfenfürsten werden mir dabei eine große Hilfe sein. Komm mit mir, Orgrim. Ich wünsche, dass du alles verstehst, was heute Nacht geschieht.«
Skanga stieg in einen Sitz aus geflochtenen Lederriemen und ließ sich mit dem Flaschenzug über Bord hieven. Gestützt von zwei Kriegern, stieg sie aus und ließ sich im Beiboot nieder. Plötzlich stürzte sich eine ganze Gruppe Trolle auf die beiden Elfenfürsten. Sie wurden gefesselt und ohne auf ihre Proteste zu achten, über Bord geworfen. Vom Boot aus fischte man sie mit langen Stangen aus dem Wasser. Orgrim sah mit gemischten Gefühlen dabei zu. Den ganzen Tag über beteuerte Skanga, wie wichtig diese beiden Elfen waren. Und dann wurden sie so behandelt, nur um sich die Plackerei zu ersparen, sie mit dem Flaschenzug herabzulassen.
Der Troll kletterte das Fallreep hinab und ließ sich am Bug des Bootes nieder. Die Ruderer stießen das kleine Gefährt vom Rumpf der Geisterwind ab und begannen aus Leibeskräften zu pullen. Dabei hielten sie respektvollen Abstand zu den Zeugenbäumen, die von stachelartigen Wurzeln umringt waren. Der Mond überzog das Meer mit metallenem Licht. Jede Welle und jede Klippe hob sich überdeutlich von der silbernen See ab. Or-grim konnte sehen, wie sich Krabben die zerklüfteten Stämme der Baumriesen hinaufarbeiteten. Was war dies nur für eine seltsame Weltgegend! Es gab Bäume, die das Land verließen, um in der offenen See zu wurzeln, und Krabben, die das Meer verließen, um auf Bäume zu steigen. Was die Viecher dort oben zwischen den Ästen wohl machten? Nisten?
Sie hatten sich der Insel nun auf fast hundert Schritt genähert. Zwei Trolle mit Fackeln standen am Eingang einer felsigen Bucht. Nahe der Insel war die See zerwühlt. Riffe schienen die Bucht zu schützen wie Mauerringe eine Burg.
Das Boot begann in der unruhigen See zu schaukeln. Gischt sprühte ihnen in die Gesichter. Der Bootsführer riss die Ruderpinne herum und brachte sie auf einen Kurs parallel zu den Riffen. Sie hielten jetzt auf einen Zeugenbaum zu, der wie ein Wachturm am nördlichen Ende der Zufahrt stand.
»Wir kommen hier nicht durch!«, rief der Bootsführer verzweifelt. »Die Ebbe hat bereits begonnen. Das Wasser steht zu niedrig, um noch in die Bucht einfahren zu können. Die Riffe würden uns den Rumpf zerreißen.« Orgrim sah, dass das Fahrwasser dicht beim Baum ruhiger war. »Versuch es dort drüben!«
Der Bootsführer schüttelte den Kopf. »Dort müssen Wurzeldornen sein! Die sind nicht weniger gefährlich als die Korallen.«
»Mamk, überlass Orgrim das Ruder!«, befahl Skanga.
Der Bootsführer sah ihn hasserfüllt an, erhob sich aber von seinem Platz im Heck. Als Orgrim sich an ihm vorbeidrängte, zischte ihn der andere an: »Du hast wohl vor, jetzt jeden Tag ein Boot zu versenken, Klugscheißer! «
Orgrim versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber die Worte hatten ihn tief getroffen. Warum hatte er auch nicht den Mund gehalten? Das war nicht sein Boot. Es ging ihn nichts an, wenn der Bootsführer vor einer schwierigen Passage kniff. Jetzt hatte er den Ärger am Hals. Und er konnte sich keine Niederlage mehr leisten. Er nahm auf der Bank im Heck des Bootes Platz und legte den rechten Arm auf die Pinne des Ruders. Das dunkle Holz schmiegte sich angenehm in seine Hand. Orgrim schloss die Augen und versuchte eins zu werden mit dem Boot und der aufgewühlten See. Er spürte, wie die Wellen den Rumpf sanft hoben.
»Die Ruder flach!«, befahl er mit fester Stimme.
Zwei Dutzend Männer starrten ihn an. Die meisten von ihnen blickten unfreundlich. Offenbar war der Bootsführer beliebt. Zumindest beliebter als irgendein dahergelaufener Fremder, dem der Ruf vorauseilte, dass er auf dumme Art ein Schiff verloren hatte.
Orgrim
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