Elfenzeit 4: Der Löwe von Venedig - Schartz, S: Elfenzeit 4: Der Löwe von Venedig
abgehalten, sie zu erkennen. Um keine Verlegenheit aufkommen zu lassen, widmete sie sich schweigend dem Essen.
»Sie sind die Colombina«, sagte die Elfenfrau nach einer Weile. Zum ersten Mal wandte sie Nadja das Gesicht zu. Ihre Augen hinter der Maske leuchteten in einem unglaublichen Blau, in dem sich ein Korallenriff zu spiegeln schien.
»Ja«, antwortete Nadja. »Offen gestanden, das Kostüm wurde mir aufgedrängt. Ich kenne die Commedia nicht so gut …«
»Sie sehen so echt aus wie ich«, unterbrach die Elfenfrau. »Ganz anders als all diese eitlen Gecken, die sich einbilden, sie bräuchten nur ein Stück Stoff um sich zu drapieren und schon wären sie ein edler Held oder Magier.« Sie rümpfte verächtlich die Nase. »Es ist abstoßend.«
»Tut mir leid, dass es ihnen hier nicht gefällt«, meinte Nadja. »Ich finde so etwas spaßig.«
»Gewiss … spaßig, ja. Aber etwas Düsteres ist an diesem Ort, das mich unwohl sein lässt. Das tumbe Volk dort merkt es nicht, die Menschen sind stumpf geworden und verleugnen ihre Sinne.« Die blaue Dame blickte wieder zu Nadja. »Aber Sie können es auch spüren, oder?«, fragte sie leise. »Sie sind anders als die meisten hier. Ich weiß nicht, was es ist, aber … fast sind Sie mir vertraut.«
Die nahezu unverblümte Offenheit der Elfenfrau erstaunte Nadja. Eine unbedarfte Gesprächspartnerin hätte jetzt mit Befremden reagiert. Eigentlich sollte sie das auch tun, um den Schein zu wahren. Aber sie brachte es nicht fertig.
»Ich kann Dinge sehen, die andere nicht sehen können«, sagte sie. »Doch bisher fand ich nichts Beunruhigendes.«
»Sie sind noch nicht lange genug hier, daran mag es liegen. Aber nehmen Sie meine Warnung ernst: Immer wieder verschwinden Menschen an diesem Ort, jedes Jahr von diesem Ball. Sehen Sie sich vor, wagen Sie sich nicht zu weit in die Räume außerhalb, und geben sie keinen Avancen nach, auch wenn der Jüngling noch so attraktiv erscheinen mag. Viele der Gäste sind das, was sie zu sein vorgeben – Menschen in Masken, die für eine Nacht so tun, als wären sie jemand anderes. Aber einige tragen Masken, um sich dahinter zu verbergen.«
Nadja entschloss sich zum direkten Vorstoß. »Warum sind Sie hier?«
Die blaue Dame erhob sich. »Ein Gerücht zog mich hierher. Es heißt, dass der Tod hier keinen Zutritt erhält.«
»Und glauben Sie, das stimmt?«, fragte Nadja erwartungsvoll. Suchte die blaue Dame etwa nach dem Quell? Vermutete sie ihn hier?
»Der Tod ist hier überall«, antwortete die Elfenfrau dumpf. »Dieser Ort ist verdammt und ebenso alle, die hier leben. Ich habe genug gesehen. Ich werde gehen.«
Sie wandte sich Nadja zu, beugte sich und umfasste mit ihrer Hand kurz ihr Kinn. »Leben Sie wohl, junge, schöne Colombina. Zu besseren Zeiten mögen wir uns wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen«, war alles, was Nadja verblüfft herausbrachte.
Sie stellte Teller und Glas ab und ging auf Erkundung. Dabei begegnete sie einem Paar – er als König Louis XVI., sie als Marie Antoinette, was Nadja einigermaßen geschmacklos fand und besser auf eine Halloweenparty gepasst hätte. Dann allerdings jeweils mit dem Kopf unter dem Arm. »Bringen Sie uns Champagner!«, fuhr der Mann sie barsch an, und die Frau fügte hinzu: »Aber ein bisschen plötzlich! Wir warten schon sehr lange!«
Nadja änderte ihre Meinung; die Kostüme passten perfekt zu ihnen. Die beiden waren genau das, was sie vorgaben. »Sischäär«, antwortete sie im breiten französischen Akzent, »alles nur ssu Ihren Diensten, Madame, Monsieur.« Sie drehte sich um, erspähte einen Livrierten, der gerade Champagner auf hoch erhobenem Tablett durch die tanzende Menge trug, steuerte ihn an, schnappte sich zwei Gläser und brachte sie dem hochnäsigen Paar. »Genießen Sie den Henkersschluck, Madame la Guillotine wartet schon.« Dann hielt sie unmissverständlich die Hand für ein Trinkgeld hin.
»Auch noch frech werden«, sagte Marie Antoinette schnippisch. »Wir müssen ein ernstes Wort mit Piero bezüglich seines Personals sprechen.«
»Personal? Was sagen Sie da! Sie halten meine Colombina, Ehrengast auf diesem Ball, für eine Dienstmagd?« Eine lange Nase, spitz wie ein Storchenschnabel, schob sich in Nadjas Blickfeld, gefolgt von einem schneidigen, figurbetont gekleideten Mann mit Umhang, Bauchschärpe und Degen an der Seite. Er schwenkte den Hut in einer galanten Verbeugung vor Nadja. »Verzeih, meine liebste Colombina, dass dein Scaramuccia nicht rechtzeitig hier
Weitere Kostenlose Bücher