Elfenzeit 4: Der Löwe von Venedig - Schartz, S: Elfenzeit 4: Der Löwe von Venedig
Zinnen hochgetrimmter Kasten aus weißem und rotem Marmor. Die arabischen Fenster waren mit Mosaiksteinen umrandet, griechische Säulen säumten den Eingang und zierten die Balkone. Vierzig Zimmer, schätzte Nadja. Plus den möglicherweise ausgebauten Turmkammern.
Nun ja, zweihundert Jahre waren eine lange Zeit, und wenn die del Leons geschickte Händler waren, konnte sich da einiges erhalten haben. Allerdings griff der Fiskus bei derartigen Immobilen heutzutage ordentlich zu, und vielleicht liefen die Geschäfte nicht mehr ganz so gut wie früher. Die wenigsten hatten mit der Rezession zu kämpfen. Nadja wunderte sich nicht über die Gerüchte, denen zufolge das Finanzamt unsaubere Buchführung vermutete. Wahrscheinlich waren auch einige Geschäftspartner nicht ganz zufrieden mit den Abläufen, so etwas ergab sich zwangsläufig.
Eine breite Treppe führte zum Eingang empor, die von zwei geflügelten Löwen flankiert wurde. Über dem Eingang wehte das Familienwappen, seine obere Hälfte wurde vom Löwen des Hauses eingenommen, die untere vom venezianischen Wahrzeichen.
Der Majordomus stand am Eingang des Palazzos und begrüßte jeden Neuankömmling. Er trug die Livree eines Kammerdieners des neunzehnten Jahrhunderts und dazu eine weiße Perücke, die im Nacken mit einer langen Schleife zusammengehalten wurde. Ein ältlicher, hagerer und ergrauender Mann mit Tränensacken und großen, traurigen Augen. Manche Gäste kannte er und hieß sie lächelnd willkommen, die übrigen fragte er höflich nach dem Namen und ließ sich sogar die Einladung zeigen. Der Conte wollte wirklich sichergehen, dass keine unerwünschten Personen nach Tramonto kamen. Wer wohl alles auf der schwarzen Liste stand? Polizeiliche und private Ermittler, Finanzbehörden, vielleicht Versicherungen, Mafia; da gab es viele Möglichkeiten und sicher ebenso viele Feinde.
Als Nadja an der Reihe war, zeigte sie unaufgefordert ihre Einladung und den Presseausweis. Der Majordomus warf nur einen flüchtigen Blick darauf und sagte: »Willkommen, Signora.«
»Vielen Dank«, sagte Nadja. »Wie schön, endlich eine Stimme zu hören. Die stummen Diener sind ein wenig irritierend.«
»Es ist nicht ihre Aufgabe zu reden, Signora, sondern zu bedienen. Sie haben sich dazu verpflichtet, kein einziges Wort zu sprechen.«
»Und wenn man wegen eines bestimmten Getränks eine Bitte an sie richten will?«
»Hier bleiben keine Wünsche offen. Wollen Sie hineingehen?«
»Ich hätte eine Bitte«, sagte Nadja. »Wäre es möglich, eine Gästeliste zu bekommen? Ich kann mir so viele Namen unmöglich alle aufschreiben, es wäre mir eine große Hilfe und garantiert zudem der Familie, dass in meinem Bericht nichts falsch geschrieben ist.«
Der Majordomus nickte kaum merklich. »Wir haben eine Pressemappe vorbereitet, die Sie gleich hinter dem Eingang abholen können.«
»Darf ich Ihnen eventuell noch weitere Fragen stellen?«
»Alle Fragen werden in der Mappe beantwortet.«
»Auch über das Filmteam?«
»Das ist nur von einem lokalen Sender und wird die Insel bald wieder verlassen. Es ist nicht für die Dauer der Feier zugelassen. Und nun wünsche ich Ihnen viel Vergnügen.«
Normalerweise wurde sie mit einem solchen Kommentar hinauskomplimentiert, hier aber bat man Nadja ausdrücklich in den Palazzo hinein. Der Conte hatte seine Leute perfekt im Griff.
Ein Schwall Wärme, angereichert mit dem Duft von Orchideen und Patschuli, schwappte Nadja entgegen, als sie durch das riesige Portal nach innen trat und staunend verharrte. Es war wie in einem Panoptikum und der Palazzo in Wirklichkeit eine Zirkusmanege.
Eine riesige Halle breitete sich vor Nadja aus, mit zwei großen Treppen links und rechts, die gewunden zu einer Galerie hinaufführten. Von dort aus gelangte man ringsum zu den Zimmern, Türmen und weiteren Gängen. Alles war voller Menschen in Kostümen. Nadja konnte die gesamte Commedia dell ’Arte ausmachen, und dazu kamen noch jede Menge Fantasiekostüme mit passenden Masken. Paradiesvögel, wilde Kreaturen, geheimnisvolle barocke Schönheiten, Könige und große Helden, sagenhafte Frauengestalten. Weiter hinten glaubte sie eine langhaarige, barbusige Loreley zu entdecken, die sich lebhaft mit einer Walküre unterhielt. Die Anderswelt hätte nicht skurriler und fremdartiger sein können.
In der Mitte des Saales war eine Tanzfläche aufgebaut, die von vielfarbigen Strahlern ausgeleuchtet wurde. Ein großes Orchester spielte bei hervorragender Akustik passende
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