Elfenzeit 4: Der Löwe von Venedig - Schartz, S: Elfenzeit 4: Der Löwe von Venedig
durchziehen. Gesunder Menschenverstand war weniger gefragt als Intuition und die Fähigkeit, magische Strömungen zu erkennen.
Die blaue Dame war dazu anscheinend nicht in der Lage gewesen, sonst hätte sie erkannt, dass David hier war, und nicht Small Talk mit Nadja gemacht. Der Conte musste über außerordentliche Fähigkeiten verfügen. Hoffentlich fing er die Elfenfrau nicht auch noch ein.
»Ich schnüffle noch ein bisschen herum und mache Fotos, falls der andere Bericht schiefgeht«, sagte Tom. »Wie siehts aus, sehen wir uns nachher noch?«
»Bestimmt. Du findest mich meistens genau dort, wo es etwas zu essen und zu trinken gibt.«
»Na fein, da halte auch ich mich am liebsten auf. Bis später, Nadja.« Tom schob die Maske wieder übers Gesicht und verschwand in der Menge.
Die Journalistin bewegte sich langsam über die Tanzfläche und überlegte, wie sie weiter vorgehen sollte. Da wurde ihr die Entscheidung abgenommen. Der Majordomus kam auf sie zu, unauffällig und unerwartet. Erneut fielen ihr seine kummervollen Augen auf, obwohl er sich dessen vermutlich nicht bewusst war, denn seine Miene war beherrscht professionell, freundlich-distanziert.
»Der Conte möchte Sie sprechen«, sagte er.
10 Der Conte del Leon
Es ging über die rechte Treppe hinauf, auf der wie überall dichtes Gedränge herrschte. Nadja betrachtete die Bilder an der Wand. Die meisten waren alt und von unbekannten Künstlern, schienen aber echt zu sein. Das Porträt eines Mannes fiel ihr besonders ins Auge; diese unheimlichen, zwingenden dunklen Augen hatte sie schon einmal gesehen. Ihr fiel aber nicht ein, wo. Der Mann stand in Herrscherpose mit Gehstock vor einem hohen Lehnstuhl, zu seinen Füßen ein edler Jagdhund, und im Hintergrund ein Fenster, durch das man Venedig sehen konnte.
Das nächste Porträt zeigte eine schwarzhaarige Frau von herber, schlanker Schönheit. Sie war wie eine klassische Römerin abgebildet, mit monumentaler Frisur, die von einem Band gehalten wurde, Plisseetunika mit geraffter Taille und kunstvoll drapiertem Schleier. Zierliche Füße steckten in Schnürsandalen. Gelassen, mit sinnlichem, leicht verächtlichem Lächeln lehnte sie an einer Säule und blickte aus dunklen Augen auf die sich einige Stufen unter ihr ausbreitende italienische Landschaft hinab. Vor ihr auf dem Boden spielten kleine Kätzchen.
Diese beiden fast lebensgroßen Bilder beherrschten die riesige Wand und ließen die übrigen, geschickt darum arrangierten Gemälde verblassen.
Viele der Doppeltüren standen in diesem Teil des Hauses offen; die Einrichtung der Räumlichkeiten sah aus wie in einem zur Besichtigung freigegebenen Schloss, der vorherrschende Stil war Barock. Auch hier hielten sich Gäste auf, fläzten sich auf den Polstern und schütteten Alkohol in sich hinein. Einige knutschten ganz ungeniert, und Nadja konnte das typische Männerraunen hören, auf das girrendes Kichern folgte. Sobald die Masken aufgesetzt waren, fielen zuerst die Hemmungen und danach die Kleider, das war nicht überraschend.
Die Musik schallte bis hier herauf, und auf einem nach außen gewölbten Vorsprung der Galerie wurde getanzt. Der Majordomus betrat einen Gang, der durch einen Vorhang abgetrennt wurde, und führte Nadja zu einer Tür mit Doppelflügeln, deren Klinken geflügelte Löwen darstellten. »Die Arbeitsräume und Bibliothek«, erklärte der verhärmte Mann. »Bitte treten Sie ein.« Er klopfte und öffnete einen Flügel, wies einladend nach innen und schloss die Tür hinter Nadja, nachdem sie eingetreten war. Sie nahm die Maske ab und sah sich um.
Der Raum war größer als das Wohnzimmer der Ca’ d’Oreso, die Wände mit bis an die Decke reichenden Buchregalen vollgestellt, in denen tausende Bücher, größtenteils Antiquitäten, und kostbare Nippes standen. Die Hälfte der gegenüberliegenden Wand nahm eine Fensterfront und der Ausgang auf einen Balkon ein. Das Parkett war mit einem großen antiken Teppich ausgelegt, es gab eine gemütliche Sitzgruppe, eine Bar und am Fenster einen riesigen und schwer aussehenden Schreibtisch. Kein PC oder Laptop fand sich darauf, wie überhaupt im ganzen Haus nichts Modernes oder Elektronisches zu sein schien. Der Raum roch passend, dachte Nadja, wurmstichig und abgestanden, fast ein wenig muffig. Wie in einem Museum.
Aus der offen stehenden Tür eines Nebenraums erklangen Schritte, dann betrat der Conte sein Reich. Er war über einsachtzig groß, mit Frack, enger Hose und Stiefeln bekleidet. Seine
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