Elfenzeit 4: Der Löwe von Venedig - Schartz, S: Elfenzeit 4: Der Löwe von Venedig
Leere.
Plötzlich war helllichter Tag und Nadja schwebte über dem Meer. Die See war ruhig, nur wenige Wellen kräuselten sich. Als Nadja übers Wasser hinwegstrich, sah sie ihren Schatten unter sich, und einen kurzen Reflex in einer kleinen glatten Oberfläche.
Eine Möwe
, dachte sie.
Ich bin eine Möwe
.
Für einen Augenblick geriet sie in Euphorie und genoss die Leichtigkeit des Flugs, den Auftrieb unter den Federn, das Auf und Ab mit dem Wind. Ihre scharfen Augen entdeckten Fische unter der Wasseroberfläche, fette Beute, doch sie war nicht hungrig.
Dann erreichte sie eine kleine Insel. Wild und ursprünglich lag sie unter ihr, mit Bäumen, die für ein Nest geeignet waren. Die nächste Brut sollte dort heranwachsen.
Aber da war ein Mensch, mit wehenden schwarzen Haaren. Er sah sich um, und die Nadja-Möwe erkannte, dass er die Insel in Besitz nahm. Sie stieß einen empörten Pfiff aus, und der Mensch blickte zu ihr hoch und schüttelte die Faust. Die Möwe überlegte, ihn anzugreifen. Er hatte kein Recht, hier zu sein, diese Insel gehörte nicht zum Menschenreich.
Warum?
, fragte sich Nadja.
Sie hielt die Maske fest und bewegte den Kopf.
Und dann sah sie es, und vor allem – sie spürte es. Eine Kraftfeldlinie, die mitten durch die Insel verlief. Sie war viel stärker als diejenige in Paris, die der Getreue am Knoten in Besitz genommen hatte. Ein glühendes Band, wie ein Lavastrom.
Das ist es
, dachte sie.
Genau deswegen gibt es den Bann. Die Leons haben irgendeine Möglichkeit gefunden, die Linie zu nutzen und damit den Schutzschild zu errichten, der den Tod und alle weiteren unerwünschten Besucher fernhält. Sie haben sich ihre eigene Enklave abseits der normalen Menschenwelt geschaffen, die trotzdem nicht Teil des Feenreiches ist. Kein Wunder, dass sich die Venezianer pausenlos bekreuzigen, wenn nur der Name Tramonto fällt
.
Ein Pulsschlag pochte in der Linie, und Nadja erinnerte sich an die Worte ihrer Geisterfreunde Byron und Casanova: In Venedig trafen viele magische Wege zusammen, es war das Tor zu anderen Welten. Wahrscheinlich der zentrale Knotenpunkt Europas, in der magischen Welt ebenso wie einstmals in der historischen.
Die Nadja-Möwe kreiste weiter über der Insel, Tag um Tag, Jahr um Jahr. Sie sah die Grundsteinlegung, die erste Mauer. Die zweite. Marmor wurde herangeschafft, Schiff um Schiff legte an und löschte Unmengen an Ladung. Der Palazzo wuchs in die Höhe, verschlang Unsummen an Blut und Schweiß und Gold. Aber die Leons machten weiter, sie ließen sich durch nichts abbringen. Bald galt die Insel als verflucht, weil es so viele ungeklärte Todesfälle gab.
Doch Stein um Stein wurde aufgeschichtet, die Fahne errichtet, die Einrichtung herbeigeschafft. Die wuchernde Wildnis wurde gerodet und ein Park angelegt, und im Innenhof des Palazzos ein Heckenlabyrinth mit großen, imposanten Lauben gezogen. Die Nadja-Möwe sah viele Menschen kommen und gehen, doch mit der Zeit blieb der eine oder andere, mehr oder minder freiwillig. Sie erlebte rauschende Feste und Orgien, hemmungslose Liebesspiele im Labyrinth, mitten im Park oder bei Tisch. Sie feierten Tag für Tag, ohne Unterlass.
Und die Ley-Linie pochte und pulsierte unter dem Schloss.
Die Nadja-Möwe entschloss sich, ihr Nest auf dem Dach des Palazzos zu bauen. Sie landete, um nach dem richtigen Platz zu suchen, da sah sie plötzlich den dunkelhaarigen Mann direkt unter sich. Er fletschte die Zähne, seine Augen funkelten wild und boshaft. Und gierig. Dann hob er den Arm …
Nadja riss sich hastig die Maske vom Gesicht und lehnte sich zitternd an die Tür. Ihr Herz raste. Der Rückweg war ihr unendlich schwergefallen. Auf irgendeine nicht fassbare Art und Weise wusste sie, dass sie eben beinahe mit der Möwe gestorben wäre.
Das Erschütterndste aber war der Anblick des Mannes gewesen, des ersten Conte.
Es war eindeutig, daran konnte überhaupt kein Zweifel bestehen. Als hätte sie einen Zwilling des heutigen Piero, Conte del Leon, gesehen, exakt im selben Alter!
Genug
, dachte Nadja.
Fürs Erste habe ich genug erfahren
. Sie wollte es nicht wagen, die Maske noch einmal aufzusetzen. Zuerst musste sie sich erholen und wieder Kraft schöpfen. Es kam ihr vor, als hätte die Maske ihr Lebenskraft abgesaugt, um ihr die Bilder zeigen zu können. Sie musste also noch vorsichtiger mit dem magischen Gegenstand umgehen und durfte ihm nur in ganz bestimmten Situationen nutzen. Den Weg zu David musste sie vorerst auf andere,
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