Elfenzeit 4: Der Löwe von Venedig - Schartz, S: Elfenzeit 4: Der Löwe von Venedig
Was würde passieren, wenn er davon erführe? Waren vielleicht diese beiden verantwortlich für den Sturm dort draußen? Es war schon sonderbar, ein normales Fenster zu öffnen, das dann offensichtlich in eine ganz andere Welt führte.
Die Versuchung, die Maske erneut aufzusetzen, war groß. Nadja fühlte, wie die Tasche schwer an ihrer Schulter hing, und setzte sie ab.
Abermals stürzten die Fragen auf sie ein. Wie sollte es jetzt weitergehen? Was konnte sie tun? Nadja fühlte sich völlig überfordert, sie hatte fürchterliche Angst vor dem Conte und inzwischen auch vor jedem anderen Gast des Balls. Jeder schien ein schreckliches Geheimnis mit sich herumzutragen und nur Böses im Sinn zu haben, so schien es ihr zumindest. Nadja traute nun nicht einmal mehr Tom. Sie war ganz allein, konnte niemanden um Hilfe bitten. Sie konnte nicht einmal Fabio anrufen, damit er nach Tramonto kam, weil der Sturm es nicht zuließ.
Worauf habe ich mich da nur eingelassen
, dachte Nadja verzweifelt.
Das ist zu groß für mich, ich schaffe das nicht. Ich weiß nicht mehr weiter
.
Um sich abzulenken, holte sie die Digitalkamera hervor und sah sich die Bilder von heute Abend an. Vielleicht brachte ihr das ja die richtige Eingebung.
Zumindest waren die Bilder gut geworden, tröstete sie sich, sie reichten allemal für eine gute Reportage.
Doch dann erlitt sie einen Schock, und ihre Hände fingen erneut an zu zittern. Hektisch zappte sie sich immer weiter durch die gespeicherten Aufnahmen, und sie merkte, wie sich ihr Magen umdrehte. Es war alles noch viel, viel schlimmer als sie gedacht hatte.
»Was sind sie«, flüsterte Nadja ungläubig, ihre Stimme kaum mehr als ein schwaches Krächzen. »Vampire? Werwölfe? Wiedergänger?«
Fassungslos starrte sie die Bilder an, wieder und immer wieder.
Die Aufnahmen waren gestochen scharf, viele fröhliche Menschen tummelten sich darauf.
Bis auf den Hofstaat des Conte und ihn selbst. Sie alle, ohne Ausnahme, waren völlig verzerrt, verwischt, zu abscheulichen, grotesken Abbildern ihrer selbst verdreht. Grauenvoll entstellte Wesen, wie sie nicht einmal in Horrorfilmen gezeigt wurden.
Nadja schrie innerlich auf; am liebsten hätte sie die Kamera fortgeworfen, aber sie konnte nicht aufhören, sie musste sich die Zerrbilder weiter anschauen. Sie wollte ihren Augen nicht glauben.
Und da war niemand, den sie um Rat und Hilfe bitten konnte.
Nach einer Weile kam Nadja wieder halbwegs zu sich. Es hatte keinen Sinn, sie durfte sich nicht so gehen lassen. Durch hysterische Anfälle konnte sie nichts ändern und David fand sie so auch nicht. Egal, wie viel Angst sie hatte – da musste sie jetzt durch. Sie durfte sich nur noch auf David konzentrieren und sich durch nichts mehr ablenken lassen.
Solange der Conte noch nicht auf der Suche nach ihr war, konnte sie sich weiter umsehen. Das Haus war groß, er würde eine Weile brauchen, um sie aufzuspüren. Bis dahin hoffte sie, den richtigen Weg gefunden zu haben. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr, in keiner Richtung.
Nadja stand auf und ordnete ihre Kleidung. Sie schwitzte unter der dünnen Jacke, und ihre Füße fühlten sich an wie Blei.
Und nun
, gab sie sich selbst Anweisung,
gehst du weiter, Schritt für Schritt, das ist nicht schwer. Niemand kann Anstoß daran nehmen, dass du dich umsiehst, die anderen Gäste tun es auch, und du bist Journalistin. Der Conte hat es dir erlaubt. Also bist du ein harmloser Gast, genauso ahnungslos wie alle anderen. Halte Augen und Ohren offen und geh weiter, zurück zur Party. Und dann öffnest du eine Tür nach der anderen, bis du hinter einer David findest
.
Tapfer kämpfte sie sich voran, Schritt für Schritt, bis sie endlich befreiter durchatmen konnte, das Blut aufhörte, in ihren Ohren zu rauschen, und sie gelassener wurde. Es war nicht ihr erster nervenaufreibender Job. In Londonderry war sie einmal in eine Schießerei geraten, als sie Empfehlungen über nordirische Pubs schreiben sollte. Das war auch nicht besonders spaßig gewesen, und sie hatte sich gerade noch hinter einer Mauer in Sicherheit bringen können. Die Augen fest zusammengepresst, hatte sie dort ausgeharrt, bis Polizei, Feuerwehr und Krankenwagen eingetroffen waren. Es war der 151. Tag nach hundertfünfzig völlig friedlichen Tagen gewesen.
Nadja stieß seufzend den Atem aus. Sie hatte in den letzten Wochen schon so viel durchgestanden, neue Welten hatten sich ihr eröffnet, sie pflegte Umgang mit Geistern – was ließ sie sich also von
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