Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
das Schicksal nochmals auseinandertreibt. Deine Suche findet hier und jetzt ein Ende – das schwöre ich!«
Julia streckte sich und drückte mir einen zärtlichen Kuss auf den Mund. Er schmeckte so süß ... Er füllte mich aus, erstickte jeglichen Widerstand in mir. Ich erwiderte ihn und gab mich endlich dieser Sehnsucht hin, die über die Jahrhunderte schier ins Unermessliche gewachsen war.
»So früh am Morgen schon wach, Julia? Das ist ja ganz was Neues ...«
Eine dicke Matrone trat auf den Balkon. Sie erblickte uns, erstarrte, und noch bevor ich ein Wort sagen konnte, schrie sie um Hilfe.
Unter mir wurde es laut. Schlaftrunkene, halb nackte Männer eilten aus dem Haus, sahen zu uns herauf und schrien Unzusammenhängendes. Fackeln wurden rasch herumgereicht, um das Geschehen am Balkon noch besser ausleuchten zu können.
Ich drängte Julia zurück in den Schatten. Ich musste verschwinden, so rasch wie möglich! Fort waren die Gedanken daran, meine Geliebte mitzunehmen. Niemals hätte ich mir ihr gemeinsam fliehen können. Zunächst galt es, mich selbst in Sicherheit zu bringen. Julia würde man nichts antun, sondern sie vermutlich nur in ihrem Zimmer einsperren und bewachen lassen.
»Ich komme wieder!«, sagte ich, stieg auf die Brüstung des Balkons und ließ mich in die Tiefe fallen, wenige Meter von den Wächtern des Hauses entfernt. Ich kam auf, rollte mich ab, ignorierte den Schmerz des Aufpralls und schob mich so rasch wie möglich wieder auf die Beine. Im Nu hatte ich Guirdach gezogen und ließ das Kurzschwert durch die Luft zischen. Respektvoll sprangen die Männer zurück und ließen mir jenen Freiraum, den ich benötigte, um mit ein paar Schritten die Nordseite des Hauses zu erreichen. Dort stieß ich einen Pfiff aus und winkte mit beiden Händen.
Morocutti hatte sein Boot keine zwanzig Meter vom Haus entfernt treiben lassen. Den Körper unter grobem Gewand eingewickelt, sah er aus wie einer der vielen Fischer, die ihrem Tagwerk in der Lagune nachgingen. Augenblicklich setzte er sich in Bewegung und kam mit kräftigen Ruderschlägen auf mich zu.
Die ersten Wächter hatten ihre Überraschung überwunden. Es waren fünf an der Zahl, und sie drängten näher! Mit gezückten Messern schoben sie sich entlang der Hausmauer an mich heran, immer einer hinter dem anderen. Sicherlich konnte ich sie mir vom Leib halten – sofern sie nicht daran dachten, mich auch von der anderen Seite des schmalen Stegs anzugreifen.
»Du bist spät dran!«, rief mir Morocutti zu, während er sich dem Ufer näherte. Nichts und niemand schien seine Fröhlichkeit beeinträchtigen zu können.
»Ich war ... beschäftigt«, sagte ich, hielt mich am Halteseil fest und sprang meinen Gegnern überraschend entgegen. Dabei zog ich dem Vordersten der Kerle die Klinge übers Handgelenk. Erschrocken wich er zurück und stieß dabei gegen seine Kameraden.
Die Ruder platschten, dann hörte ich das Knirschen des Bugs über die Kieselsteine am Ufersaum. Doch ich wagte es nicht, mich nach Morocutti umzublicken. Ein Messer war rasch geschleudert. Ich musste mich vorsehen und durfte keinen Moment in meiner Aufmerksamkeit nachlassen. Wenn ich meine Gegner noch einmal mit einer Parade überraschen konnte und mich dann mit einem Sprung ins Boot rettete, konnte die Flucht gelingen.
»Achtung!«, hörte ich Morocuttis Stimme.
Jemand hatte sich, wie ich es befürchtet hatte, von der anderen Seite kommend an mich herangeschlichen. Ich duckte mich unter dem zu erwartenden Hieb weg und drückte mich, so gut es ging, gegen die Hauswand.
Stahl klirrte auf Stein. Funken sprühten über mich hinweg und tauchten die Szenerie in ein unheimliches Licht.
Tybaglio! Er stand da, mit hassverzerrtem Gesicht, und hielt ein
cinquedea
, einen an der Basis fünf Fingerbreit starken Dolch aus prächtig verziertem Damaszenerstahl, in der Rechten. Unter den Anfeuerungsschreien der Wächter holte er eben zum zweiten Mal aus, führte den Hieb von oben nach unten.
Guirdach war eine zu filigrane Waffe, und angesichts der Enge meines Standplatzes sah ich keine Chance, mich meines verhassten Gegners zu erwehren. Ich musste ins Wasser springen, musste darauf hoffen, dass meine Angreifer daraufhin die Verfolgung aufgaben ...
Plötzlich ein Schrei. Morocutti hatte das Boot verlassen. Mit nichts als einem rostigen Messer in der Hand drängte er sich zwischen mich und Tybaglio. Er wehrte
irgendwie
den mächtigen Hieb des Adligen ab und ließ dessen Stahl abermals über
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