Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
beängstigende Ausmaße an. Morocutti drängte mich in einen Seitengang, der vom Hauptsaal wegführte, öffnete ein Fenster, packte mich an den Beinen und stemmte mich mit unerwarteter Kraft durch die Öffnung auf die Brüstung des ersten Stockes der Casa.
»Ein einziges Mal möchte ich ein vornehmes Haus durch die Vordertür verlassen!«, seufzte mein Bursche und half mir hinab, auf den sumpfigen Erdboden, wenige Meter neben dem Lagunenwasser. Er folgte mir, rollte sich wesentlich geschickter als ich auf dem Boden ab und wies mir den Weg. Es schien, als hätte er ganz genau geplant, wie er vorgehen musste, um aus der Ca’di Capullo zu entkommen.
Unser Boot wartete um die Ecke. Schläfrig grinsten die Ruderer uns entgegen, und nach ein paar harschen Worten meines jugendlichen Begleiters legten sie sich anständig in die Riemen. Als hinter uns Alarm geläutet wurde und man nach meinem Kopf schrie, waren wir bereits mehrere hundert Meter von der Insel Mazorbo entfernt, auf dem Weg zurück zu meinem eigenen Heim.
Im zweiten Stock öffnete sich eine Tür. Eine zierliche Frauengestalt trat mit langsamen Schritten auf den Balkon.
Julia hob die Arme und winkte mir nach.
Gegen Tybaglios Intrigenkunst war ich machtlos. Binnen weniger Wochen hatte er ganz Venedig gegen mich aufgehetzt. Er brachte bösartige Gerüchte in Umlauf, sorgte dafür, dass mich niemand aus der besseren Gesellschaft sehen wollte und dass alles, was ich tat, um die Stimmung zu verbessern, schon im Ansatz erstickte. Seltsamerweise funktionierte meine elfische Überredungskunst in diesen Tagen nicht. Ich war wie gelähmt und konnte mit der Bösartigkeit meines Kontrahenten nicht umgehen.
Wie eine Spinne im Netz hatte sich Tybaglio in der Casa des alten Capullo häuslich eingerichtet. Längst hatte er den Familienpatron von meinen unlauteren Absichten überzeugt. Anklagen und Drohungen prasselten von allen Seiten auf mich ein, und Misstrauen und Hass begegneten mir, wohin ich mich auch wandte.
Wer war ich?, wurde ich gefragt. Wo waren meine Erbschaftspapiere? Wie kam es, dass seit Jahrhunderten kein Oreso mehr in Venedig gewohnt hatte? Welche dunklen Geheimnisse verbargen sich hinter den Mauern meiner Casa?
Es kostete mich Unsummen, die venezianischen Verwahrungskräfte auf Distanz zu halten und dafür zu sorgen, dass meine Angestellten unbehelligt blieben. Düstere Gestalten patrouillierten Tag und Nacht um die Ca’d’Oreso. Niemand, auch der Doge Tommaso Mocenigo nicht, der von seinem Palazzo aus über Venedig herrschte, kam gegen das Intrigengeflecht des völlig enthemmt agierenden Tybaglio an, jenes weithin bekannten Helden der ruhmreichen venezianischen Flotte.
Doch der Doge hatte selbst ausreichend zu tun, um sich gegen Rivalen seiner Macht zur Wehr zu setzen. Er betrachtete meine Anwesenheit in der Lagunenstadt als Übel und tat nur das Notwendigste, um meine Bürgerrechte zu schützen.
Angesichts dieser trüben Aussichten verkroch ich mich in meiner Casa und kam meist nur in der Nacht zum Vorschein, um durch das stetig wachsende Kanalgeflecht zu rudern, stets in der Hoffnung, irgendwo und irgendwann einen Blick auf Julia zu erhaschen, die unterdessen in die vornehme Gesellschaft Venedigs eingeführt wurde. Tybaglio wich ihr nicht von der Seite. Trotz seines unsteten Charakters avancierte er zu einer der angesehensten Persönlichkeiten der Stadt. Niemand wollte es sich mit seinem Oheim verderben, aus dessen Schatulle die venezianische Flotte zu einem Gutteil finanziert wurde.
Irgendwann reichte es mir. Ich musste einen Weg finden, musste Julia sehen, um Sicherheit zu bekommen. War sie es? War sie das Behältnis der wandernden Seele, der ich seit weit mehr als einem Jahrtausend hinterhereilte?
Mein Herz hatte längst seine Bestätigung erhalten – doch der elfische Verstand wollte ebenfalls beruhigt werden. Erst wenn ich hundertprozentig wusste, meine,
meine
Julia wiedergefunden zu haben, würde ich die Entführungspläne, welche ich längst wälzte, in die Tat umsetzen.
»Wie gelange ich in die Ca’di Capullo?«, fragte ich Morocutti eines Tages.
»Endlich!«, rief der Kleine und stieß einen Stoßseufzer aus. »Ich dachte, du würdest gar nicht mehr fragen!«
»Du meinst, du hast dir darüber schon deine Gedanken gemacht?!«
»Selbstverständlich.« Morocutti griff in seinen Hosenbund und zerrte ein paar Blätter zerrissenen Pergaments hervor. »Dies ist der Grundriss des Gebäudes. Hier, hier und hier stehen die Wachen. Vom
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