Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
übers Gelände verteilt. Tiefe Risse durchzogen den Rest seines Körpers. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er endgültig zerfiel.
Nur noch wenige Meter fehlten mir. Mein Schritt wurde langsamer. Mir war, als watete ich durch zähflüssige Melasse und versänke immer tiefer, immer tiefer. Die Schatten erwachten nun aus ihrer kathartischen Starre. Sie zogen und zerrten an mir, bildeten schreckliche Gestalten aus, die mich irritieren und schwächen sollten. Ich konzentrierte mich auf das eine Ziel, die letzten drei Schritte zu tun. Noch zwei, noch einer ...
Ich fühlte mich gepackt, nach hinten gezogen. An meinen Armen hing Laetico, gesteuert von seinen Schatten. Sein Gesicht war grausam verzerrt, Blut pochte durch weit hervorstehende Adern an den Schläfen. Er brabbelte Unsinniges, redete mit sich selbst – beziehungsweise mit den vier Schatten, die ihn steuerten und die albtraumhafte Umrisse angenommen hatten ...
Ich dachte an Estella. An Sehnsüchte. An Liebe. An mein Unverständnis und meine Dummheit – und irgendwie fand ich die Kraft, mich loszureißen. Ich ließ mich nach vorne fallen, auf den zerbröckelnden Stein zu, bekam eine der schroffen Kanten zu fassen und krallte mich daran fest.
Dann spürte ich Vonlant. Er war weit, weit weg, fast schon jenseits eines Horizonts, hinter dem alles Sein endete. Doch er kam zurückgeeilt, als er meine Berührung und die der Schattenwesen fühlte. Unheiliger Zorn erfüllte ihn. Der Heilelf brauste heran und fegte wie ein Gewitter über die vier unheimlichen Wesen hinweg. Er sah sie als ansteckende Krankheit, als eiternde Furunkel, die es aufzustechen galt.
Vonlants Kräfte waren unglaublich. Er
durchschaute
die Schattenwesen. Er erkannte sie und fühlte, dass sie in der Anderswelt keine Lebensberechtigung besaßen. Vornüber gebeugt lag ich auf dem Steinelfen, und er ließ mich nach innen blicken, in mein inneres Selbst. Für einen Moment durfte ich sehen, was und wer ich eigentlich war. Meine Stärken, meine Schwächen, Charakterfehler und gute Eigenschaften.
Dann drängte Vonlant mich beiseite und widmete sich den Schattenwesen. Cavos Persönlichkeit, dieses ätzende, denkende Gift, war der Stärkste von ihnen. Vonlant, in meiner Vorstellung ein reinweißer Adler, streckte seine scharfen Krallen vor und zerfetzte mit ihrer Hilfe jenes schwarze Tuch namens Cavo. Ich sah lange, glatte Schnitte, parallel zueinander. Der Heilelf wütete; immer weiter faserte der Stoff aus, bis die einzelnen Bahnen nicht mehr zu erkennen waren. Cavo schrie, anfangs ohnmächtig vor Zorn, später aus Angst. Er wollte sich bei Vonlant einschmeicheln, bot ihm einen neuen Körper, Jugend und viele andere Dinge an. Doch der Alte kümmerte sich nicht um die Verlockungen. Er ruhte so sehr in sich selbst, dass er Cavos Lügen durchschaute, noch bevor sie formuliert waren.
Irgendwann endete das Gejammer des Schattenwesens. Das Tuch war in feinste Fasern zerschnitten und Cavos Persönlichkeit in einen Wahnsinn abgedriftet, aus dem es kein Entkommen mehr gab.
Mit den drei anderen Schatten machte Vonlant ebenfalls kurzen Prozess. Sie endeten wie ihr Kumpan im Nichts. Ich wüsste nicht zu sagen, ob sie tatsächlich starben. Doch sie waren so sehr zersetzt, dass es ihnen niemals wieder gelingen würde, in die Anderswelt zurückzukehren.
Schließlich endete der Kampf in meinem Inneren, ich fand wieder Kontakt zur Außenwelt. Alles an mir schmerzte. Die Hetzjagd durch den Wald, die die Schatten mit mir veranstaltet hatten, forderte nun ihren Tribut. Ächzend drehte ich mich auf den Rücken. Unweit von mir stand Laetico. Jene hölzernen Augen, die der Königin gehörten, starrten mich an. Sie wusste also, was hier geschah. Mein Freund drehte sich um, gesteuert von seinen vier Besitzern. Einer von ihnen löste sich vom Körper, wohl von Panik gepackt angesichts Vonlants Fähigkeit, sie zu vernichten. Doch er kam nicht weit. Er glitt über einen der Gesteinsbrocken, die vom Heilelfen abgesprengt worden waren – und löste sich vor mir auf.
Bring ihn zu mir!
, hörte ich Vonlants fordernde, unbarmherzige Stimme in mir.
Ich werde ihn ebenfalls von seinem Leid befreien
.
Ich humpelte auf Laetico zu, der unsicher dastand, von drei Schatten in unterschiedliche Richtungen gezogen und gezerrt. Mit letzter Kraft schlug ich zu. Gegen das Kinn meines Freundes. Er sah mich erstaunt an – und fiel dann nach hinten um. Noch bevor er auf dem Boden aufkam, war er bewusstlos.
Die Schatten wanden sich. Sie
Weitere Kostenlose Bücher