Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
Ebene, die Schloss Tiollo vom Wald trennte. Vier Schatten klebten an meinen Beinen und an denen Laeticos. Ihre Umrisse zeigten Gestalten, die mir in keinster Weise ähnelten. Sie glichen verbotenen Wesen aus alten Zeiten, deren Anblick mir den Verstand zu rauben drohte. Die Schatten zwangen mich vorwärts. Sie taten jeden einzelnen Schritt für mich. Krampfhaft bemühte ich mich, über sie hinwegzublicken. Soeben passierten wir Cairlach, den Baumelfen. Er schien mir mit einem seiner Äste zuzuwinken.
Von den sonstigen Dienern Eirinyas war niemand zu sehen. Die Königin vertraute voll und ganz den Schatten, und dies wohl zu Recht. Sosehr ich mich auch anstrengte – sie zerstörten jeglichen Widerstand bereits im Ansatz.
»Wohin bringt ihr mich?«, fragte ich ins Leere. Meine vier Schatten bewegten ebenfalls ihre Münder, bildeten Fangzähne und lange Zungen aus und wurden zu schrecklichen Grimassen, die meine Absicht, mit ihnen in Kontakt zu treten, ins Lächerliche zogen.
»Ich bin Cavo«, ließ mich der vordere Schatten sagen. »Du bist so lange unser Eigentum, bis wir das Domizil unserer Herrin erreicht haben.«
Plötzlich eilte er davon, und ich fühlte ein Ziehen in meinen Beinen. Das unheimliche Wesen zwang mich hinter sich her, ließ mich irrwitzige Haken schlagen und in den Wald hineineilen.
Ich sprang über einen Bach, stolperte über eine Luftwurzel und knallte mit dem Kopf gegen einen Felsbrocken, ohne dass mir die Schatten erlaubten, die Hände zum Schutz hochzureißen. Cavo zwang mich weiter. Es ging hügelauf und hügelab, durch Wasser, über Hecken und Büsche hinweg, durch Gruben und Nesselfelder, von Fels zu Fels. Mein Herz klopfte wie wild, und mein Atem wurde kurz und kürzer. Irgendwann, so ahnte ich, würden mich die Strapazen umbringen.
Der linke und der rechte Schatten ließen mich Anlauf nehmen – und mich mit voller Wucht gegen eine Gewürztanne krachen. Halb bewusstlos taumelte ich zu Boden, für einen Moment aus der Gewalt meiner Wärter entlassen. Es wurde schwarz vor meinen Augen, und nur mit allergrößter Mühe schaffte ich es, bei Bewusstsein zu bleiben. Aus einer breiten Wunde auf der Stirn rann Blut, ebenso aus der Nase. Metallischer Geschmack füllte meinen Mund.
»Die Königin will, dass wir dich zu ihr bringen«, sagte Cavo mit einer dunklen Bassstimme, die sich ganz und gar nicht nach mir anhörte. »Aber sie hat nicht gesagt, in welchem Zustand wir dich übergeben sollen.«
Eine Faust schoss auf mich zu. Es war meine eigene, und ich konnte ihr nicht ausweichen.
Irgendwann endeten die Folterungen der vier Schattengeschöpfe.
Ich wischte mir Blutkrusten aus dem Gesicht und erhob mich aus dem Moos. Laetico stand über mich gebeugt. Mit seinen grässlichen hölzernen Augen starrte er mich an. Eirinya beobachtete vermittels ihres Zaubers, was die Schattenwesen mit mir anstellten – und sie erfreute sich wahrscheinlich daran.
Cavo übernahm wieder das Kommando über mich und führte mich einen schmalen Weg entlang aus dem Wald. Ich glaubte, den Pfad zu kennen, den wir wählten – und tatsächlich: Nach kurzer Zeit erreichten wir jenes Steinlabyrinth, das den Eingang zu Vonlants Refugium kennzeichnete.
Die Umrisse eines Plans zeichneten sich in meinem Kopf ab. Doch konnte ich ihn ausführen? Lasen die Schatten meine Gedanken?
Nein; aber sie reagierten auf meine Stimmungen, auf meine Absichten. Wenn ich Anspannung zeigte, waren sie darauf vorbereitet. Wenn ich Angst verspürte, genossen sie es und wanden ihre Schattenleiber in Ekstase. Wie also sollte ich sie täuschen? Wie konnte ich für wenige Sekunden der Aufmerksamkeit meiner Wächter entwischen, um auszuführen, was ich plante?
Ich dachte an Estella. An ihre ganz besondere Art, mich zu berühren, und an ihre absolute Hingabe, mit der sie mir eine Seele geschenkt hatte. Ich fühlte die Wärme in mir; sie wurde stärker und stärker, füllte mich aus und ließ mich mit der Intensität eines Menschen empfinden ...
Cavo und die anderen Schatten suhlten sich in meiner Emotionalität. Sie knabberten daran, wanden lustvoll ihre grässlichen Schattenleiber. Sie ... aßen etwas, das sie in ihrem langen Leben wohl niemals zuvor gekostet hatten.
Jetzt!
, sagte ich mir und lief los, so rasch wie möglich. Hinein ins Felsenlabyrinth, den Weg entlang, an den ich mich zu erinnern glaubte.
Da war Vonlant, der Steinelf. Er sah fürchterlich aus. Faustgroße Brocken waren aus seinem Leib gesprengt worden und lagen kreuz und quer
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