Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
Pirx schlug seine Zähne in den Karton, zerbiss ihn, brachte dessen Inhalt ans trübe Licht. Liebevoll presste er das erste Stück seiner – seiner! – Beute an die Brust, schlug einen Salto, dann einen Doppelsalto sowie ein Rad und endete mit einem Nasenstand an der gegenüberliegenden Seite des Lastwagens.
»Geht’s dir gut?«, fragte nun auch Grog und richtete seinen Oberkörper auf, scheinbar für einen Augenblick aus seinem Schmachtzustand gerissen.
»Es könnte mir gar nicht besser gehen!« Pirx sah sich um, zählte die übereinandergestapelten Kisten und schätzte, wie viele von ihnen vor bis zur Fahrerkabine eng an eng gestapelt waren. Dann widmete er sich einer einzelnen Schachtel. Sein Kopf schmerzte bei all den Zahlen, die er sich merken musste. »Du bist doch gut im Rechnen, nicht wahr?«
»Ich war eine Zeit lang Oberster Blattzähler des Baumschlosses«, antwortete der Grogoch stolz.
»Wie viel ist drei mal vier mal zwölf mal zehn mal dreißig?«
»Sehr
viel«, sagte Grog bedächtig.
»Geht’s ein wenig genauer?«
»Auch als Oberster Blattzähler stößt man irgendwann an seine Grenzen. Außerdem kannst du dir die Summe eh nicht vorstellen.«
»Sag es mir! Bitte!«, flehte Pirx. Abermals ging er in den Nasenstand. Geifer floss zwischen seinen Lippen hervor und troff über Wangen und Stirn in den wirren Haarschopf. Er wollte die Zahl wissen, bevor er begann, sich in die Ladung zu wühlen, sich in ihr zu suhlen.
Grog dachte nach. Nach einer Weile sagte er: »Weit über vierzigtausend.«
»Vierzigtausend! Das ist ... das ist ... viel mehr als hundert, oder?«
»Ja, das ist es.« Grog kam endgültig auf die Beine. Er wirkte so, als vergäße er allmählich, was ihm vor wenigen Stunden zugestoßen war, als verblasste die Erinnerung an die beiden Wassernixen. »Jetzt sag endlich, was mit dieser Zahl ist.«
Pirx ließ sich nach vorne fallen und deutete auf seine Beute, die er fest gegen seine Brust presste. Er fühlte, wie die Schokolade in der Verpackungsfolie schmolz, doch es störte ihn nicht.
»Dies hier, mein Freund«, sagte er feierlich und deutete auf die Kisten, »ist schöner als eine Suhle, wohlschmeckender als Katzenragout, und es macht viel mehr Spaß als deine Gesellschaft. Denn unser Laster transportiert mehr als vierzigtausend – Überraschungseier.«
9 Eine neue Wanderschaft
Capodichino, der Flughafen Neapels, empfing sie mit brütender Hitze. Der ätzende Geruch von Kerosin vermengte sich mit üblem Gestank, der von der Stadt hergetragen wurde. Der Himmel war grüngelb, von Russ und anderen Schadstoffen durchzogen.
»Willkommen im Reich der Faltenworzen«, murmelte Fabio.
»Der
was?«
»Faltenworzen«, wiederholte Nadjas Vater. »Halb intelligente Geschöpfe, die vor einigen Jahrhunderten die Anderswelt verlassen und es sich auf der Erde bequem gemacht haben. Die meisten von ihnen sind im Süden Italiens ansässig.«
»Was machen sie, und wie sehen sie aus?« Ein Shuttle-Bus nahm Vater und Tochter auf. Während der Fahrt verzichteten sie auf weitere Gespräche. Erst als sie vor dem Flughafengebäude ausstiegen, redeten sie weiter.
»Faltenworzen sind kleine und hinterlistige Geschöpfe«, fuhr Fabio fort. Klimatisierte Kühle empfing sie im Inneren des Gebäudes, und er wischte sich Schweiß von der Stirn. »Sie nisten sich in den Gesichtsfalten der Menschen ein und überziehen die Haut im Laufe der Jahre mit einem unsichtbaren Geflecht. Man sieht sie nicht, man spürt sie nicht, aber sie sind da.«
Beunruhigt sah sich Nadja nach allen Richtungen um. »Das heißt, ich selbst könnte mir eines dieser Wesen aus der Anderswelt einfangen?«
Fabio lächelte. »Keine Angst. Du bist ebenso wie ich gegen diese Plagegeister immun.« Er sah sich um, kräuselte die Stirn und ging dann schnurstracks auf eine in ein teures Designergewand gehüllte Italienerin zu, die heftig gestikulierend in ihr chromglänzendes Handy sprach.
Nadja blieb zurück. Sie sah zu, wie ihr Vater einmal mehr seinen unwiderstehlichen Charme anwandte. Er lächelte die Frau an, hauchte ihr einen Kuss auf die Hand, brachte sie dazu, die Telefonverbindung zu unterbrechen, und schäkerte mit ihr, als kenne er sie seit Ewigkeiten. Nadja fühlte sich unwohl, fast ein wenig verärgert. Konnte denn keine Frau ihrem Fabio widerstehen? Wickelte er
sie
vielleicht genauso um den kleinen Finger wie dieses herausgeputzte Luxusgeschöpf?
Die etwa 40-jährige Italienerin wurde rot – rot! – und kicherte wie ein
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