Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
Schulmädchen. Sie schenkte Fabio ein vielversprechendes Lächeln, um ihm gleich darauf einen Zettel zu reichen, auf den sie mit dunkelrotem Lippenstift ein paar Zahlen geschrieben hatte.
Fabio bedankte sich mit einer Verbeugung, dann blickte er sie plötzlich besorgt an. Die Stirn runzelnd, beugte sich der Elf über das Gesicht der Frau – und zog mit den Nägeln des Daumens und des Zeigefingers ein unsichtbares Etwas aus ihrem Gesicht. Die Italienerin zeigte sich verwirrt, als erwache sie soeben aus einem bösen Traum. Hastig verabschiedete sie sich, mit einem Mal wollte sie Fabios Gesellschaft so rasch wie möglich entkommen.
Er kehrte zu ihr zurück, die Finger nach wie vor zusammengepresst, als hielte er etwas zwischen ihnen fest. Die Karte mit der Telefonnummer der Italienerin warf er gedankenlos in einen Mülleimer.
»Hörst du die Faltenworze?«, fragte Fabio. »Sie jammert. Sie hat Angst. Es klingt wie das Frequenzkrachen eines schlecht getunten Radios.«
Nadja schloss die Augen, schaltete alle Hintergrundgeräusche aus und konzentrierte sich auf ihre unmittelbare Umgebung. Und tatsächlich – da war es! Ein Gekreische und Gezeter, das annähernd an eine menschliche Stimme erinnerte, aber von einer Unmenge an Reiblauten durchzogen war.
»Faltenworzen wachsen mit ihren symbiontischen Trägern mit, ohne dass diese etwas davon ahnen«, erläuterte Fabio. »Sie sind, wie gesagt, fast unsichtbar. Am leichtesten erkennt man sie, wenn man sie gegen einen Regenbogen hält. Dann leuchten sie in zartem Gelb.« Ihr Vater zuckte mit den Schultern. »Aber Regenbögen sind bekanntermaßen nicht jeden Tag und überall verfügbar.«
»Du hast mir noch immer nicht gesagt, was sie eigentlich anstellen. Warum sie sich auf der Erde so wohlfühlen.«
»Sie sind in der Lage, Emotionen anzubohren und sie in einem gewissen Maße zu lenken. Faltenworzen verstehen sich ausgezeichnet auf Intrigen, und sie lieben es, ihre Träger zu dirigieren, ihnen ein Regelwesen aufzudrängen.«
»Das heißt?«
»Als sie vor ungefähr achthundert Jahren durch ein Tor in diese Welt vorstießen, vereinbarten sie, in einem Informationsnetz miteinander in Verbindung zu bleiben. Dann ließen sie sich vom Wind davontreiben und verteilten sich an der Südspitze Italiens. Jene Menschen, die sie als Symbionten auserkoren, wurden mit ihren ... Ideen infiziert. Regelwerke entstanden. Gesellschaften innerhalb der Gesellschaften. Im Guten wie im Schlechten lenkten sie das Schicksal der Menschen, ohne sich ihnen zu offenbaren.«
Nadja schüttelte irritiert den Kopf. »Du meinst ...?«
»Ja.« Fabio zog ein silbern glänzendes Feuerzeug aus seiner Brusttasche und setzte das unsichtbare Nichts in Flammen. Ein schriller Schrei ertönte, nur einen Moment lang. Einige Menschen drehten sich zu ihnen um und gingen dann zögerlich weiter; die meisten Passanten jedoch hatten die seltsame Situation nicht bemerkt. »Die Faltenworzen organisierten sich in Geheimgesellschaften«, fuhr ihr Vater gelassen fort, nachdem er seine Finger an einem Papiertaschentuch gereinigt hatte. »Ein gewisser Menschenschlag fühlt sich von ihnen wie magisch angezogen. Die unwissentlichen Opfer nennen ihre Vereinigungen
Stidda, ’Ndrangheta, Sacra Corona Unita, Camorra
oder
Mafia
. In anderen Teilen der Welt heißen sie
Cosa Nostra, Kosher Nostra, Pruszkow, Yakuza
oder
Triaden
. Das organisierte Verbrechen. Du siehst, dass das Wort
Organisation
eine ganz andere Bedeutung haben kann, als die Menschen glauben.«
»Sind die Faltenworzen unsere Gegner, oder können wir sie auf der Suche nach dem Getreuen für uns nutzen?«, fragte Nadja, nachdem sie sich von dem Schock erholt hatte. Tag für Tag lernte sie dazu. Die Verbindungen zwischen Anderswelt und Menschenreich waren viel tiefgreifender, als sie angenommen hatte.
»Sie sind unbrauchbar für uns.« Fabio seufzte. »Die Faltenworzen haben längst ihre Wurzeln in der Anderswelt vergessen und ihren Halt verloren. Es kümmert sie nicht, was rings um sie geschieht. Sie sind lediglich auf das eine Ziel fokussiert, ihre Organisationen am Leben zu erhalten. Im Grunde genommen sind sie Instinktlebewesen, die nur dem Zusammengehörigkeitstrieb folgen. Sie würden niemals verstehen, was wir von ihnen wollten. Selbst wenn ich mit ihnen Kontakt aufnehmen könnte – was so gut wie ausgeschlossen ist.«
»Na schön.« Sie hatten die große Wartehalle des Flughafens erreicht. Nadja setzte sich in einen Schalensitz neben ihrem Vater und schlug
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