Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
die Beine übereinander. Sie fühlte die bewundernden Blicke eines dunkelhaarigen Italieners auf sich ruhen. Er setzte sich ihr gegenüber und lächelte.
Nadja ignorierte ihn, packte einen Schokoriegel aus, den sie im Flugzeug stibitzt hatte, und biss herzhaft hinein. Tausend Gedanken gingen ihr durch den Kopf, und nicht besonders viele darunter waren erfreulicher Natur. »Ich bin gar nicht so unglücklich, dass wir von deiner Erzählung über Julia und dich abgekommen sind«, sagte sie nach einer Weile. »Was du mir da bislang zugemutet hast, ist verdammt starker Tobak.«
Verzweifelt versuchte sie, die Erinnerung an dieses mordlüsterne Geschöpf namens Bellona zu verdrängen, ebenso wie Estellas und Julias furchtbare Tode. Und schon gar nicht wollte sie an den Wahnsinn denken, der Fabio gepackt hatte, nachdem die rachsüchtige Annuna-Göttin ihr grausames Werk vollendet hatte.
»Ich kann es dir nicht ersparen«, sagte Fabio tonlos.
»Wird es ... wird es
noch
schlimmer?«
»Ein paar Details lasse ich wieder aus, okay? Was nach Julias Tod geschah, tut nicht viel zur Sache. Es reicht, wenn du weißt, dass Bellona mich in einem Zustand des Irrsinns zurückließ, der lange Zeit nicht von mir wich. Die Annuna-Göttin hatte Sicilla verschont. Auch dies war ein Teil ihres bösen Spiels. Die letzte überlebende Tochter des Gaius Albus verfolgte mich bis zu ihrem Tod mit unglaublichem Hass. Sie gehorchte damit genau jenem Plan, den Bellona gehegt hatte. Von überall her bekam ich in der Lagunenstadt, die schließlich Venedig genannt wurde, Ablehnung zu spüren. Victorius Secundus warf mir vor, seine Warnungen überhört zu haben. Barchoil sprach kein Wort mehr mit mir, weil ich ihm Sicilla entfremdet hatte. Die Bevölkerung von Tres Porti verlor jegliches Vertrauen in mich. Ich wurde zum Ausgestoßenen, zum Paria, der in ihrer Gesellschaft gerade noch geduldet wurde.«
»Warum bist du in der Stadt geblieben?«
Fabio sprach nun so leise, dass Nadja ihn kaum verstehen konnte. »Ich war gefangen.
In mir
. Ich hatte wenige lichte Momente, und konnte mich nicht selbst versorgen. Ich war wie ein Hund, dem man gerade noch erlaubte, sich am Feuer zu wärmen, und dem man, nachdem alle anderen satt geworden waren, ein paar angeknabberte Knochen zuwarf. Damals lernte ich die dunklen Seiten der Menschen kennen. Sie verhöhnten mich, ließen mich ihre Verachtung spüren und zeigten mir offen ihren Hass.« Er seufzte. »Die Elfen und die anderen Geschöpfe der Elfenwelt waren um keinen Deut besser. Sie behandelten mich, als wäre ich keiner der Ihren mehr. Und wahrscheinlich hatten sie damit recht.«
»Wie hast du das bloß überlebt?« Nadja schmiegte sich an ihren Vater; sie wollte, dass er sie spürte; dass er wusste, wie sehr sie an seinem Schicksal Anteil nahm.
»Ich weiß nicht«, gestand Fabio, um sich gleich darauf zu verbessern: »Ach was! Natürlich wusste ich’s!«
»Ja?«
Er zögerte. »Eine Seele, die einmal gewandert war, würde es auch weiterhin tun. So lange, bis sich ihr Schicksal erfüllte. Das war es, was mich aufrecht hielt.«
Er legte seinen Arm auf Nadjas Schulter, zog sie noch näher an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
Sie unterdrückte ein Grinsen. Der gegenübersitzende Italiener zog die Stirn kraus, schüttelte verärgert den Kopf und stand auf. Sicherlich hielt er sie für die teuer bezahlte Gespielin des weißhaarigen älteren Mannes, an den sie sich schmiegte.
»Das Phänomen der Reinkarnation ist in der Menschenwelt nichts Neues«, sagte Fabio. »Ich habe mich in späteren Jahren intensiv mit diesem Thema beschäftigt. Zwar besitzen die Menschen keinerlei schriftliche Aufzeichnungen darüber, aber es gibt Quellen in der Anderswelt. Manche Elfen, die mir helfen konnten, existieren sogar heute noch. Als Baum, als Stein, als Wolke.« Er lächelte, wurde aber gleich wieder ernst. »Wie es scheint, kam es vor ungefähr achttausend Jahren erstmals zu Seelenwanderungen auf der Erde. Das ist ein Geheimnis der menschlichen Kultur, das Elfen nicht verstehen – oder nicht verstehen wollen. Vielleicht ist die Reinkarnation aber auch der Beweis für ein frühes Aufeinandertreffen von Wesen aus der Menschen- und der Anderswelt. Irgendetwas muss diese willentliche Trennung von Körper und Seele verursacht haben. Die Existenz der Faltenworzen ist Beweis genug, dass es weitaus tiefer greifende Verbindungen zwischen den beiden Sphären gibt, als man glauben mag.«
Nadja schwieg. Eng an ihren
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