Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
Aus der Ferne blies der heiße Wind Wüstensand heran. Er würde mit der Zeit die Gemäuer der Stadt glatt schmirgeln und sie schließlich gnädig überdecken.
Mongolische Reiter standen Spalier, als ich meine unbekannte Geliebte auf einen Hügel brachte. Mit bloßen Händen hob ich ein Grab aus. Die Reiter verfolgten mich mit Blicken; ihre Hände ruhten stets an den Griffen der Krummdolche und der Peitschen. Doch sie blieben ruhig, griffen mich nicht an. Wer weiß – vielleicht hätte ich in diesen Augenblicken den Tod akzeptiert, ohne mich dagegen zu wehren. Eine höhere Macht wollte nicht, dass ich durch die Hände dieser rauen Eroberer starb. Sie ließen mich, den Unantastbaren, gewähren und meine Aufgabe zu Ende bringen.
Ich bettete die Frau in wertvolles Brokattuch, bevor ich sie in die Dunkelheit absenkte. In jenem Augenblick, da ich die ersten Klumpen Erde auf sie hinabstieß, schien etwas aus ihr zu entweichen. Erschrocken hielt ich inne, stürzte hinab, riss die Bedeckung von ihrem Leib und suchte mit zittrigen Fingern nach einem Puls, nach Spuren des Lebens. Aber nein, sie war tot.
Vielleicht war ein letzter Rest Luft aus ihren Lungen entwichen. Oder aber jener Teil ihrer Seele, der auf mich gewartet hatte, war nun endgültig von der leiblichen Hülle gelöst.
Ich beeilte mich, die Tote zu beerdigen. Ihr Körper verfiel mit ungewohnter Rasanz. Er schrumpelte vor meinen Augen zusammen, wurde ledrig und holte binnen weniger Minuten all das auf, was er während der letzten Tage
nicht
durchgemacht hatte.
Bunte Blumen umkränzten schließlich das Grab, und ein mannshoher Stein, den ich unter Aufbietung aller Kräfte aufstellte, würde für alle Zeiten diesen Ort meiner neuerlichen Niederlage kennzeichnen.
Nach einer Weile innerer Besinnung ritt ich davon, ohne mich ein einziges Mal umzublicken. An den Mongolen vorbei, hinaus aus diesem verblutenden Land, das niemals wieder zu einstiger Größe zurückfinden würde.
Ohne es zu ahnen, hatte ich einen Mythos begründet. An den nächtlichen Feuern erzählten sich die Mongolen vom Unantastbaren, der niemals ruhte, der stets weitergetrieben wurde, bis er irgendwann zum Ende aller Zeiten hin Erfüllung fand. Die Geschichte erreichte einen anderen Außenposten des entstehenden mongolischen Weltreiches, und ein aramäischer Bischof brachte sie, ausgeschmückt und mit christlichen Glaubenselementen versehen, nach Italien, wo sie Eingang in die Chronik von Bologna fand. Der Mythos des Ewigen Juden Ahasver war geboren, und er würde in den nächsten Jahrhunderten durch meine ausgedehnten Reisen weitere Nahrung finden.
Doch das scherte mich nicht.
Der frische Wind aus dem Osten, er hatte aufgehört zu wehen.
Aufgeben? Stehen bleiben und mein Schicksal, stets zu spät zu kommen, als gegeben hinnehmen? – Niemals!
Mir schien, als machte mich jede Niederlage noch härter, noch zäher. Oder war es ein Wahnsinn, der meine Seele erfasst hatte? Ich dachte nicht weiter darüber nach, sondern folgte meinen Instinkten – und den Energielinien.
Sie führten mich nach Nordafrika. Ich schloss mich den Wüstennomaden an und durchquerte die Sahara. In den Dschungeln nahe dem Äquator wurde ich Weißhäutiger wie ein Gott verehrt. Sicherlich habe ich auch dort meine Spuren in mündlich überlieferten Erzählungen hinterlassen, und vielleicht beruhen manche Voodoo-Mythen, die von Westafrika ihren Weg in die Karibik fanden, auf meiner spitzohrigen Erscheinung.
Nach einer Reise über die arabische Halbinsel, die mit einer weiteren Enttäuschung verbunden war, zog es mich hinaus aufs Meer. Ich genoss die Endlosigkeit des Ozeans. Sie hielt mich vom Trubel fern, den die Menschen in Europa durch Kriegs- und Handelstreiben entwickelten.
Und ich machte Geld.
Viel
Geld. Ich musste nicht in wenigen Jahren planen, sondern konnte es in einem weitaus größeren Rahmen tun. Selten nur spekulierte ich mit Waren; viel wichtiger erschienen mir die großartigen Ideen, die die Menschen hatten. Sie dachten so ganz anders als wir Elfen. Sie wussten, dass ihre Sinne beschränkt waren – und deshalb forschten sie nach Erweiterungen, nach Ergänzungen. Mittelalterliche Alchemisten waren auf ihrer Suche nach Gold die Wegbereiter der Mechanik; sie fassten die Lehren der Chemie zusammen, und sie revolutionierten das Heilmittelwesen.
Immer wenn ich glaubte, einem besonders begnadeten Forscher begegnet zu sein, unterstützte ich ihn. Manche von ihnen entpuppten sich als Scharlatane, andere erwiesen
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