Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
sich als wahrhafte Genies, die die Entwicklung der Menschheit mit Rasanz voranbrachten.
Das angehäufte Geld war lediglich Mittel zum Zweck. Es sicherte mir meine persönliche Freiheit, kaufte mir einen Namen, Reisepapiere – und damit einen Hauch von Sicherheit, wenn ich wieder einmal der Meinung war, eine neue Spur aufgenommen zu haben.
Viele Episoden meines abenteuerlichen Lebens sind mir entfallen – oder ich verdrängte sie aus Selbstschutz, um angesichts meiner Niederlagen nicht endgültig zu verzweifeln.
Noch dreimal kam ich Julias Seele nahe. Doch es war wie verflucht: Ich scheiterte stets kurz vor meinem Ziel, und ich erlaubte mir nicht, darüber nachzudenken, welche böse Macht immer wieder lenkend in mein Leben eingriff.
An Körper und Seele erschöpft, ritt ich von Ost nach West, von Nord nach Süd. Gedankenverloren, von den einfachen Menschen der noch einfacheren Dörfer scheu und misstrauisch aus der Ferne beäugt. Bauern schlugen vielfach Kreuze, wenn ich ihre Felder querte. Adlige betrachteten mich argwöhnisch und gewährten mir nur ungern Zutritt zu ihren Burgen und Schlössern, trotz meines offensichtlichen Reichtums. Und die Bürgerlichen in den sich allmählich entwickelnden Städten – sie sahen an mir vorbei, als wäre ich ein wandelnder Geist.
Die Menschen begegneten jeder Form von Neuerung mit Misstrauen und Angst, und sie flüchteten sich in Aberglauben. Dinge, die sie sich nicht erklären konnten, wurden als »Zauberei« oder »Hexenwerk« abgetan. In diesem ungeheuren Spannungsfeld zwischen technischen und sozialen Errungenschaften einerseits und mit Inbrunst praktiziertem Mystizismus andererseits erschien ich aufgrund meiner groß gewachsenen Gestalt, des sehr hellen Haars und der Spitzohren wie ein Diener des Beelzebub, Scheytan oder Lucrifirius, der sich auf Seelenfang begeben hatte.
Immer öfter musste ich flüchten und mich in die Einsamkeit dunkler Wälder zurückziehen. Man hatte die Elfen vergessen – oder die Erinnerungen an sie in mündlich überlieferte Sagengeschichten verbannt. Denn was nicht Mensch war, war nicht von dieser Welt – und damit Teufelswerk. Das Reich Gottes begann erst
nach
dem Tod, so das von Mönchen und Priestern gepredigte Bild, während die höllischen Dämonen bereits zu Lebzeiten nach Menschenseelen fischen durften.
Ziellosigkeit bestimmte diesen Abschnitt meines Lebens. Tages- und Jahreszeitenwechsel zogen an mir vorüber, ohne dass ich sie wahrnahm. Schon seit geraumer Zeit hatte ich keine Spur mehr von Julias Seele aufgenommen, und allmählich befürchtete ich, dass sie sich endgültig verflüchtigt hatte.
Ich bewegte mich auf wärmere Gefilde zu, ohne es auch nur zu registrieren. Jeden Tag trug ich weniger am Körper. Der Duft nach Pinienholz drang in meine Nase; pralle Früchte hingen an knorrigen Obstbäumen, die in Reih und Glied standen. Äcker und Felder waren gut bewirtschaftet, und lange goldene Ähren wehten im schwülen Sommerwind.
Ich querte einen Fluss, der trübes und träge dahintreibendes Wasser führte, und sah Bauern, deren strohbedeckter Karren von einem gut gefütterten Ochsen gezogen wurde. Die Männer waren betrunken und achteten nicht auf mich. Sie sangen ein fröhliches Lied, das mich auf merkwürdige Art und Weise rührte. Es dauerte eine Weile, bis ich verstand,
warum
.
Es war in einem Dialekt gehalten, den ich nur zu gut kannte! Ich hatte ihn vor vielen hundert Jahren das letzte Mal gehört. Damals, bevor ich ausgezogen war, um in der weiten Welt der Menschen nach Julia zu suchen.
Ich roch salzige Seeluft, fauligen Tang und jene Brise, die vom Süden her heißen Wüstenwind mit sich brachte. Und als die gut ausgebaute Straße, die ich entlangritt, einen letzten künstlich aufgeschütteten Wall überwunden hatte, blickte ich hinab auf die strohbedeckten Dächer Mestres. Jener Stadt im Terraferma, den Festlandbesitzungen Venedigs, die der Lagune vorgelagert waren.
Erstmals seit langer Zeit verbarg ich mein exotisches Aussehen unter einer Mütze, einer
Corno
, die einem Fischerhut nachempfunden war. Sie hatte Eingang in der vornehmen Gesellschaft der reichen italienischen Städte gefunden, bevorzugt in Genua, Pisa, Bologna und Venedig. Die Corno verdeckte meine Ohren und Teile meines blassen Gesichts. Ich wollte unter keinen Umständen Aufmerksamkeit erregen. Intrigen und Spitzeltum hielten die ständische Ordnung italienischer Städte fest im Griff. Auffällige Persönlichkeiten fielen nur zu leicht einem
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