Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
Alle Requisiten, die auf dem Tisch gelegen hatten, rutschten oder fielen zu Boden. Der Terzische Humpelgnom kam erneut herbeigeeilt. Er zog eine grässliche Grimasse und rotzte grünen Schleim vor meine Füße. Ich bescherte ihm eine Menge Zusatzarbeit.
»Dann haben wir uns nichts mehr zu sagen.« Fanmór trat dem Gnomen mürrisch in den Hintern und verließ den Raum durch ein Astloch im rückwärtigen Teil des Raums. Es vergrößerte sich, passend seiner Maße, und schrumpfte, kaum, dass er hindurchgerutscht war, auf die ursprüngliche Größe zusammen.
Zwei Wachelfen traten zu mir, packten mich an den Armen und schoben mich aus dem Allerheiligsten des Baumschlosses. Eine Entscheidung war gefallen, und sie hatte mir eine weitere Niederlage beschert.
Selbstverständlich fand ich einen Weg zurück zu den Menschen. Oft genug war ich hin- und hergewechselt und wusste, wie man die Torwächter austricksen konnte. Ich war sicherlich nicht der Einzige, der Fanmórs Regeln brach. Elfen lebten von ihrer Neugierde und ihrer Abenteuerlust. Doch sie alle wussten, dass sie keinen allzu innigen Kontakt mit den Menschen aufnehmen durften – und sie würden sich daran halten, wollten sie nicht schreckliche Strafen auf sich nehmen.
Mich hingegen kümmerte es nicht, ob und wann Fanmór über mich zu Gericht saß. Ich hatte mit der Anderswelt abgeschlossen. Alles Schlechte hatte sich von dort aus kommend ausgebreitet. Eirinya war ebenso ein Produkt dieser grässlich zeitlosen Welt wie Bellona oder die Faltenworzen. Langeweile hatte viele von ihnen unter die Menschen getrieben und zu jenen bösartigen Geschöpfen geformt, als die ich sie kennengelernt hatte.
Im Vergleich dazu erschienen mir die Menschen plötzlich harmlos. Krampfhaft klammerten sie sich an ihr kurzes Leben und versuchten, so viel wie möglich in die ihnen gegebene Zeit zu stopfen. Wer konnte ihnen ihre Fehler verübeln?
In den wenigen Stunden, da ich mir erlaubte, über derartige Dinge nachzudenken, kam mir immer wieder eine Frage in den Sinn: Hatte die Anderswelt nicht längst Eingang in menschliche Mythologien gefunden? Als »Büchse der Pandora« vielleicht – oder gar als »Hölle«?
Auf meiner Suche nach Julia folgte ich den Energielinien, die große Teile des Erdkreises durchzogen. Möglicherweise ließ sich eine wandernde Seele von dieser Kraft leiten und fand an Knotenpunkten eine neue Hülle. Also bereiste ich den hohen Norden und half den Wikingern, hochseetaugliche Schiffe zu bauen, die sie und mich in die Neue Welt brachten. Ich lebte ein Jahr lang unter den Naturvölkern des amerikanischen Nordens und verfolgte eine Spur, die sich letztendlich als falsche Fährte entpuppte. Mit den Frühlingswinden kehrte ich nach Europa zurück.
Dann ließ ich mich eine Zeit lang in Frankreich nieder. Ich beobachtete, wie die Nachfolger Karls des Großen neue Grenzen absteckten und wie Ansätze einer auf technischen Fortschritt basierenden Zivilisation entstanden. Das Land zerriss zwischen dem entstehenden Hochadel und dem Klerus, der seine weltlichen Ansprüche mit Zähnen und Klauen verteidigte.
Schneller als eine Epidemie breitete sich das Christentum aus. Ich beschäftigte mich mit den Worten des Jesus Christus. Vieles, was aus altgriechischen Abschriften ins Lateinische übersetzt wurde, erschien mir zweifelhaft; doch es fanden sich auch schöne und wertvolle Inhalte, die den Menschen halfen, sich in diesen dunklen Zeiten besser zurechtzufinden und in ihrem erbärmlichen Leben zumindest den Trost des heiligen Wortes zu erfahren.
In den italienischen Alpen zog ich von Kloster zu Kloster. Manchmal, wenn mich die Erschöpfung und Enttäuschung meiner endlos scheinenden Suche übermannten, hielt ich inne und bat um Aufnahme in einer der Gemeinschaften. Dann blieb ich für Jahre oder Jahrzehnte, saß in stickigen Bibliotheken und beschäftigte mich wie die meisten meiner Kollegen mit Abschriften. Wunderschöne Bücher entstanden, in mühseliger Handarbeit gestaltet. Es lenkte mich ab, ließ mich für eine Zeit lang die Suche vergessen. Die strengen Exerzitien halfen mir zudem, mit meinem Schicksal zurechtzukommen.
Eines schönen Frühlingstages wehte seltener Ostwind durch die zugigen Gemäuer der Abtei Marienberg im Vinschgau. Er brachte die Abenteuerlust zurück – und einen ganz besonderen Duft: Ich meinte, Julias Seele zu riechen.
Augenblicklich wusste ich, dass ich mich ein weiteres Mal auf die Suche begeben musste. Ich tauschte den groben Stoff meiner
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