Elfenzorn
Stein. Er fühlte sich hart an, ein ganz kleines bisschen klebrig und, wenn sie es genau nahm, nicht wirklich wie Stein, sondern irgendwie ... anders eben.
Verwirrt sah sie zu Alica hin, erntete aber nur einen undeutbaren Blick und eine Wolke aus grauem Zigarillorauch, den sie in ihre Richtung blies, und sah sich nachdenklich in der Kammer um. Je länger sie hier drinnen war, desto besser kamen ihre Augen mit dem schwachen Licht zurecht. Sie konnte die gegenüberliegende Wand noch immer nicht erkennen, dazu war der Raum einfach zu groß, aber was sie sehen konnte, erfüllte sie mit immer mehr Unbehagen. Wände, Fußboden und Decke waren mit groben Reliefarbeiten übersät, die irgendwelche uralten Gottheiten oder auch Ungeheuer zeigten, Jagd- und Opferszenen oder auch einfach nur Symbole, deren Bedeutung sie weder kannte noch wirklich kennen wollte. Hier und da gähnten große dreieckige Nischen in den Wänden, die sie wie versteinerte leere Augenhöhlen anzustarren schienen, und etwas Großes und Rechteckiges befand sich vor ihr. Sie hatte das Gefühl, es erkennen zu müssen, doch das tat sie nicht.
Allmählich begann sie sich wirklich unwohl zu fühlen, auch in ganz profan körperlicher Hinsicht. Ihr Herz klopfte schneller, als es sollte, und der Geschmack von saurem Speichel, der sich unter ihrer Zunge sammelte, kündigte ein neues Gefühl von Übelkeit an, das mit den Hufen scharrte, um aus ihrem Magen heraufzuspringen. Die Fackel in ihrer Hand zitterte, und in einer der Wandnischen blitzte es hell wie Sonnenlicht auf Wasser auf und verschwand auch jetzt wieder, bevor sie das Phänomen mit Blicken fixieren konnte.
Sie ging hin, senkte die Fackel und gewahrte ein ganzes Sammelsurium sichtlich alter Messer, Pfeilspitzen und Schwertklingen, die wahrscheinlich schon seit einem Jahrhundert – oderauch Jahrtausend – in dieser Nische lagen, zusammen mit einem unordentlichen Durcheinander aus Schmuck, winzigen Götterstatuen, Gürtelschnallen und Fibeln, Nadeln und Trinkgefäßen und noch anderen Gegenständen, die allesamt zwei Dinge gemeinsam hatten: Sie alle waren klein, wie für die Hände von Kindern (oder ganz besonders kleinen Männern und Frauen) gemacht, und sie alle waren schwarz. Nahezu jedenfalls.
Es gab eine Messerklinge mit einem langen, gezackten Kratzer, der das flackernde Licht der Fackel viel heller reflektierte, als er sollte. Er war es wohl auch, der sie hierhergeführt hatte.
Nachdenklich nahm Pia das Messerchen (es war nicht nennenswert größer als eine Nagelfeile) zur Hand, kratzte mit dem Fingernagel über die Klinge und fuhr schließlich mit der stumpf gewordenen Schneide über die Wand. Es quietschte, ein unangenehmer Laut, gar nicht wie Metall auf Stein, und es gelang ihr auch nicht, den schwarzen Belag von der Wand zu entfernen, wohl aber einen neuen, tiefen Kratzer im Stein zu hinterlassen … der im Übrigen alles war, nur kein Stein.
»Das ist –«, murmelte sie ungläubig.
»Ja, ganz genau«, sagte Alica von der Tür her. »Ich hatte recht!«
»Womit?«, fragte Pia, während sie sich bereits herumdrehte, sich einen Moment lang suchend umsah und dann an den monströsen Opferaltar in die Mitte des Raumes trat und sich davor in die Hocke sinken ließ.
»Damit, dass du die Cleverere von uns beiden bist«, antwortete Alica. Sie machte immer noch keine Anstalten, den Raum zu betreten. »Bei mir hat es sehr viel länger gedauert, bis ich es gemerkt habe.«
Pia kämpfte die leise Übelkeit nieder (die eigentlich gar nicht mehr so leise war), kratzte mit dem Messer an der Flanke des gewaltigen Altars und hinterließ eine tiefe, schimmernde Furche.
»Silber«, murmelte sie. »Das ist ... Silber!«
»Und zwar ein massiver Block«, bestätigte Alica von der Tür her. Pia konnte hören, wie sie an ihrem Zigarillo sog und eineRauchwolke in ihre Richtung blies. Zitterte ihre Stimme? »Ein paar Tonnen. Und das ist noch gar nichts. Die ganze Kammer ist mit Silber ausgekleidet, mindestens einen halben Meter dick. Boden, Decke, Wände ... alles. Wenn wir noch zu Hause wären, dann würde ich sagen, dass wir El Dorado gefunden haben.«
»Hieß es nicht, dass diese Stadt ganz aus Gold war?«, fragte Pia. Sie stand auf, versuchte die immer schlimmer werdende Übelkeit zu ignorieren, die in ihren Eingeweiden wühlte, und war kaum überrascht, als sich nun auch noch ein dünner stechender Schmerz in ihrem Unterleib hinzugesellte. Vielleicht hatte sie sich doch ein bisschen zu viel
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