Elfenzorn
Vielleicht war sie es ihm schuldig, wenigstens einige Momente nur um ihn allein zu trauern, und sei es nur, um auf diese Weise endgültig Abschied von ihm zu nehmen. Es kam ihr selbst sonderbar vor – sie hatte Lion nur ein paar Stunden gekannt, und trotzdem hatte er eine Lücke in ihrem Leben hinterlassen, als wäre er ihr über viele Jahre hinweg vertraut gewesen … was in gewisser Hinsicht ja auch stimmte.
Alles war viel zu fremd und kompliziert und die Wunde in ihrer Seele trotz all der Zeit noch immer viel zu frisch, als dass sie wirklich versuchen konnte, so etwas wie eine Erklärung zu finden, aber auf eine bestimmte Art war Ter Lion nicht nur Ter Lion gewesen, sondern auch … Jesus. Und das nicht nurkörperlich. Sehr viel mehr, als sie sich selbst in jener Nacht im Wald eingestanden hatte, hatte sie auch mit Jesus geschlafen, und vielleicht traf sie Lions Verlust auch deshalb so sehr: weil sie mit ihm erlebt hatte, wie es mit Jesus hätte sein können, hätte er nur ein bisschen mehr von Lion gehabt.
Sie gestattete sich, den Kummer über seinen Tod weidlich auszukosten, damit die Wunde in ihrem Herzen zu heilen beginnen konnte – auch wenn sie ahnte, wie lange es dauern mochte, und dass sie eine Narbe zurückbehalten würde, die vielleicht ihr Leben lang schmerzen würde –, schlang sich das feuchte Handtuch um die Hüften und erlebte eine Überraschung, als sie ins Gästezimmer zurückging. Die Spur der Verwüstung, die sie auf dem Weg ins Bad hinterlassen hatte, war verschwunden; genau wie ihre Kleider. Auf dem – frisch bezogenen – Bett lag ein Kleiderstapel, der dem, den sie angehabt hatte, auf den ersten Blick beinahe zum Verwechseln ähnlich sah, nur dass die Kleider vollkommen neu waren (in dem ärmellosen T-Shirt klebte noch das Preisschild einer Nobelboutique, in der sie in einer Million Jahre nicht eingekauft hätte) und sie anstelle einer Ledereine dezent mit Strasssteinen besetzte schwarze Jeansjacke fand. Josés diverse Freundinnen mussten nicht nur ungefähr ihren Geschmack haben (wenigstens den, den sie vor vier oder fünf Jahren gehabt hatte), dachte sie, während sie in die bereitgelegten Kleider schlüpfte, sondern auch ungefähr ihre Statur.
Erst nachdem sie sich fertig angezogen hatte, fiel ihr zweierlei auf: Sie war vollkommen sicher, die Tür hinter sich abgeschlossen zu haben, als sie hereingekommen war – ein rascher Blick zeigte ihr, dass der altmodische Riegel noch immer vorgelegt war –, und es konnte schwerlich ein Zufall sein, dass ihr irgendjemand ausgerechnet jetzt frische Kleider gebracht hatte. Dieser goldene Käfig musste also erstens noch einen zweiten Eingang haben und zweitens mit ziemlicher Sicherheit von vorn bis hinten verwanzt sein. Hoffentlich hatte Don José die Show wenigstens genossen.
Sie überlegte, sich irgendwie bemerkbar zu machen, kam aberfast sofort zu dem Schluss, dass sie im Moment vermutlich sowieso von mindestens einem halben Dutzend verborgener Kameras beobachtet wurde. Und sie war nicht sonderlich wild auf eine Fortsetzung ihrer Unterhaltung von heute Morgen. Die würde noch früh genug kommen, und irgendwann würde Peralta einsehen, dass seine Leute gewisse Schwierigkeiten damit hatten, den Comandante zu finden, und dann würden die Unterhaltungen wahrscheinlich nicht mehr ganz so angenehm verlaufen.
Aber sie hatte auch nicht vor, so lange zu bleiben. In ungefähr einer Stunde ging die Sonne unter, und spätestens dann stand es ihr frei, zu kommen und zu gehen, wann immer und wohin auch immer sie wollte. Don José war freundlich genug gewesen, ihr ein Dach über dem Kopf zur Verfügung zu stellen, unter dem sie wenigstens vor der Polizei sicher war (sie vermutete, dass Hernandez’ Kollegen die eine oder andere Frage an sie hatten), und ein bequemes Bett, in dem sie sich gründlich hatte ausschlafen können. Sie hatte beides dankbar angenommen, aber nun war es genug. Sobald sie eine gute Idee hatte, wohin sie von hier aus gehen sollte, würde sie verschwinden.
Obwohl es wahrscheinlich nicht nötig war, trat sie an eines der vergitterten Fenster und sah aufmerksam hinaus, um sich zu orientieren. Sie befand sich im ersten Stockwerk eines offenbar sehr großen, weitläufigen Hauses, das im Zentrum eines noch deutlich weitläufigeren, parkähnlichen Gartens lag. Sehr weit entfernt konnte sie Teile eines drei Meter hohen schmiedeeisernen Zauns erkennen, und Peralta hatte ganz eindeutig zu viele Mafia-Filme gesehen. In regelmäßigen
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