Elfenzorn
die sie seit ihrer Rückkehr so mühsam unterdrückt hatte. Früher oder später würde sie nicht mehr darum herumkommen, sich mit diesen Erinnerungen und einer Menge unangenehmer Fragen auseinanderzusetzen, aber nicht jetzt. Das Schicksal würde es ihr sicherlich vergeben, wenn sie sich noch einige wenige Stunden naiver Unwissenheit ergaunerte.
Und wenn nicht, dann konnte es ihr gestohlen bleiben. Schließlich gab es nicht mehr allzu viel, was es ihr noch antun konnte.
Sie spürte abermals, wie unangenehm sie roch, stand mit einer trägen Bewegung auf und hinterließ in bester WeißWald-Manier eine Spur aus achtlos fallen gelassenen Kleidungsstücken, während sie das Bad ansteuerte, das zu dem großzügig geschnittenen Gästeappartement gehörte.
Sie verbrachte fast eine halbe Stunde darin. Nach den Kübeln mit schmutzigem Wasser, von denen sie erst eine daumendicke Eisschicht herunterhauen musste, war ihr schon Estebans Bad letzte Nacht geradezu paradiesisch vorgekommen. Das Bad hier (samt seiner sanitären Einrichtungen; sie hatte schon beinahe vergessen, dass es so etwas überhaupt gab ) war etwas, von dem siesich gut vorstellen konnte, ganz darin einzuziehen und den Rest ihres Lebens dort zu verbringen.
Sie blieb so lange unter der Dusche stehen und drehte und räkelte sich unter dem dampfend heißen Strahl, bis sie am ganzen Körper krebsrot war und ihre Haut zu schmerzen begann, und als sie das Wasser abstellte, überraschte die Dusche sie mit einer weiteren technischen Spielerei, von der sie bisher noch gar nicht gewusst hatte, dass sie existierte: Statt Wasser kam plötzlich ein Strom angenehm warmer, trockener Luft aus den Düsen, die sie wie tausend unsichtbare schmeichelnde Hände abzutrocknen begannen, und aus versteckt angebrachten Lautsprechern erklang dezente klassische Musik. José Peralta verstand es zu leben, das musste man ihm lassen. Und er wusste offensichtlich auch, was er seinen Gästen schuldig war.
Im Zweifelsfall eine Kugel in den Hinterkopf, flüsterte eine dünne, boshafte Stimme hinter ihrer Stirn. Im Endergebnis spielte es keine Rolle, ob sie unter den Trümmern eines brennenden Hauses in WeißWald starb oder auf dem gefliesten Boden eines Luxusbads, auf das selbst das Savoy-Hotel neidisch gewesen wäre.
Es gelang ihr, auch diesen lästigen Gedanken abzuschütteln, aber irgendwie hatte er ihr den Spaß an der warmen Luftdusche vergällt. Sie trat aus der Kabine, trocknete sich mit einem der samtweichen Handtücher zu Ende ab, die gleich stapelweise auf einem Regal lagen, und stellte sich dann einer Herausforderung, der sie bisher sorgsam ausgewichen war.
Eine komplette Wand des großen Badezimmers bestand aus einem einzigen, fugenlosen Spiegel. Sie hatte es bisher vermieden, hineinzusehen, aber nun tat sie es ganz bewusst.
Alles, was sie sah, war sie selbst. Da war kein Gespenst. Kein Schatten. Nichts, wovor sie Angst haben musste. Und wahrscheinlich war auch heute Nacht in ihrem Zimmer in Estebans Haus nichts dergleichen gewesen. Ihre Nerven hatten ihr einen Streich gespielt, das war alles. Gespenster! So ein Quatsch!
Sie streckte ihrem noch immer nicht ganz trockenen Ebenbild die Zunge heraus, betrachtete sich aber auch kritisch … und ein bisschen überrascht. Es war Wochen her, dass sie sich das letzte Mal bewusst im Spiegel betrachtet hatte, und der Unterschied zu diesem letzten Mal war nicht zu übersehen. Sie hatte zugenommen, aber nur an den ganz eindeutig richtigen Stellen, und das Gewicht, das sie zugelegt hatte, bestand zu keinem einzigen Gramm aus überflüssigem Fett. Pia war schon immer schlank und sehr sportlich gewesen, aber nun sah sie auf eine schwer in Worte zu fassende Art zugleich kräftiger als auch … fraulicher aus. Vielleicht war das der Unterschied, dachte sie; gleichermaßen überrascht wie angetan von dem, was sie sah. Als sie das letzte Mal in den Spiegel gesehen hatte, hatte sie ein Mädchen darin erblickt. Jetzt sah sie in das Gesicht einer Frau.
Sie fragte sich, was von beiden Ter Lion wohl gesehen hatte, als er sie in jener schrecklichen Nacht in den Wäldern in die Arme geschlossen hatte, und der Gedanke stimmte sie wieder traurig. Diesmal ließ sie das Gefühl zu. Sie hatte noch nicht richtig um ihn getrauert. In jener Nacht im Wald war nur Platz für Zorn und Hass in ihr gewesen, und die Tage im Verlies waren ein einziger Fiebertraum gewesen, in dem der Schmerz über seinen Verlust in ihrer eigenen Pein und Furcht untergegangen war.
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