Elfenzorn
sie nie gelernt.
Dem vermeintlich längsten Tag ihres Lebens war eine kaum weniger lange (und bitterkalte) Nacht gefolgt, und nun war es schon wieder Mittag, und sie war immer noch allein.
Pia war, sorgsam in einen Mantel aus unsichtbar machenden Schatten gehüllt, wieder hinausgegangen und zu einer etwas größeren Expedition aufgebrochen, dieses Mal ans andere Ende der Geröllebene, um einen Blick auf das grüne Meer des Dschungels zu werfen, dessen entfesselte Wogen sich seit einer Million Jahren am Fuße der steinernen Giganten brachen. Sie war erstaunt, wie winzig der Fluss von hier aus wirkte, kaum mehr als ein silberfarbenes Haar, das sich durch den Dschungel ringelte, statt des breiten Stromes, der sie hierhergeführt hatte, und wie friedlich der Anblick ganz allgemein war. Auch wenn es ihr subjektiv viel höher vorkam, befand sie sich in Wahrheit wohl kaum eine Meile über dem grünen Wogen, und doch war von all dem Schrecken und all der Gewalt und dem sinnlosen Töten von hier aus nicht das Geringste zu sehen. Wie klein die Menschen doch in Wahrheit waren, und wie sinnlos und unwichtig alles, was sie taten, wurde, wenn man sie nur aus einer nicht einmal sonderlich großen Distanz betrachtete.
Nach diesem Ausflug in die Tiefen der Philosophie (und nachdem sie kurz und verächtlich die Lippen verzogen hatte) machte sich Pia wieder auf den Rückweg, wobei sie den mumifizierten Orks sorgsam auswich, die in erschreckend großer Zahl zwischen den Felsen lagen, und warf ab und zu einen Blickin den Himmel. Manchmal erschienen dort dreieckige Schatten, die über der Geröllebene kreisten und den Störenfried beäugten, der es wagte, so frech über ihre gedeckte Tafel zu spazieren, aber die kleinen Biester schienen ihre Lektion von gestern gelernt zu haben. Nicht ein einziger Fledermausvogel wagte es, ihr auch nur nahe zu kommen. Fast bedauerte sie das. Noch war sie nicht ganz so weit, aber der Moment nahte bereits, in dem sie anfing zu überlegen, wer der unangenehmere Gesellschafter war – die Langeweile oder ihre geflügelten Freunde dort oben.
So weit war es also schon gekommen ...
Pia verzog erneut – und diesmal eindeutig verächtlich – die Lippen und hielt dann mitten im Schritt inne, als ein weißer Schemen über den Himmel jagte und dann hinter dem Hügel verschwand, hinter dem ihr Zelt stand. Dann begann sie zu rennen.
Flammenhuf war unmittelbar neben ihrem Zelt gelandet und nicht allein. Zwei sehr große Gestalten in schwarzem Eisen und eine deutlich kleinere in (sehr wenig) schwarzem Leder standen bei ihm. Ein weiterer Schattenelb trat gerade in diesem Augenblick geduckt aus ihrem Zelt heraus und schüttelte den Kopf. Pias Herz machte einen erfreuten Satz in ihrer Brust, als sie Alica erkannte, und dann einen zweiten und noch viel größeren, als sich einer der vermeintlichen Elben herumdrehte und sie sah, wer es wirklich war. »Lion!«, rief sie, lief schneller und schrie zugleich noch einmal und so laut sie konnte : »Lion! Du bist zurück!«
Nicht nur Lion, sondern auch Alica und die beiden Elben drehten sich überrascht in ihre Richtung, und zumindest auf Alicas Gesicht erschien ein Ausdruck vollkommener Hilflosigkeit – den Pia allerdings ignorierte und nur noch schneller lief, bis sie Lion erreichte und sich ihm mit weit ausgebreiteten Armen an den Hals warf.
Ihr Anprall hätte ihn fast aus dem Gleichgewicht gebracht. Lion stolperte einen ungeschickten Schritt zurück, und statt sie zu umarmen, begann er wild mit den Armen zu rudern, um nichtwirklich hintenüberzufallen. »He!«, protestierte er, Alica gab ein verstörtes »Was...?« von sich, und Pia glitt hastig wieder aus den Schatten heraus, ließ Lions Nacken los und machte ihrerseits einen Schritt zurück. Lions Augen wurden groß, und statt der erhofften Wiedersehensfreude blitzte für eine halbe Sekunde fast so etwas wie Entsetzen in seinen Augen auf. Enttäuschung wollte sich in ihr breitmachen, doch dann stellte sie sich selbst die Frage, ob sie eigentlich jemals in seiner Gegenwart in die Schatten getreten war. Wenn, dann erinnerte sie sich nicht daran und er offenbar auch nicht.
»Aber wo ... wo kommst du denn …?«, murmelte Lion, dann war er mit einem einzigen Satz bei ihr, umschlang sie mit beiden Armen und so heftig, dass ihr die Luft wegblieb, und riss sie einfach in die Höhe und herum und wirbelte sie wie ein kleines Kind im Kreis, während er abwechselnd immer wieder ihren Namen hervorstieß und ihr Gesicht mit
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