Elina Wiik - 02 - Sing wie ein Vogel
menschlichen Abgrunds, der sich plötzlich vor ihr auftat, lenken sollte.
»Wie lange kannten Sie und Ihr Mann Wiljam Åkesson?«, fragte sie.
»Mir kommt es so vor, als hätten wir uns schon immer gekannt. Ragnar und Wiljam haben sich zu Beginn der fünfziger Jahre kennen gelernt. Mein Mann ist zwei Jahre jünger als er. Sie sind immer Freunde gewesen.«
»Bitte, erzählen Sie weiter«, sagte Elina, beugte sich vor und stützte das Kinn auf die Hand.
Aurora Sundstedt lächelte.
»Wir waren alle vier in der Partei«, sagte sie. »Wiljam, Ragnar, Kristina und ich. Die anderen kannten sich schon, bevor ich dazukam. Ich bin achtundfünfzig, jünger als sie, und bin mit siebzehn Mitglied geworden. Damals waren Wiljam und Kristina verlobt.«
Sie verstummte und schaute aus dem Fenster. Elina wartete auf die Fortsetzung. Sie war sicher, dass sie kommen würde.
»Ich vermisse ihn sehr«, sagte Aurora Sundstedt, ohne Elina anzusehen. »Ich habe immer noch nicht begriffen, dass er für immer fort ist.«
Elina fasste einen raschen Entschluss. Sie beugte sich vor und nahm Aurora Sundstedts Hand.
»Ich verspreche Ihnen«, sagte sie, »dass nichts von dem, was Sie mir erzählen werden, ohne Ihr Einverständnis weitergetragen wird. Nichts, sollte es nicht aus irgendeinem Grund entscheidend für … meine Ermittlung werden. Jedes Wort, das Sie sagen, werde ich für mich behalten. Aber beantworten Sie mir bitte eine Frage: Haben Sie ihn geliebt?«
Aurora Sundstedt warf den Kopf zurück. Sie atmete tief aus und sah Elina an.
»Das Wort ›geliebt‹ ist falsch. Ich liebe ihn immer noch. Ich habe ihn geliebt, seit wir uns das erste Mal begegnet sind.«
Sie wiegte ihren Körper langsam vor und zurück.
»Wir waren einmal zusammen. Nur ein einziges Mal. Eine Nacht, als Kristina verreist war. Es war gar nicht so außergewöhnlich. Aber es war … Wiljam.«
»Doch dann hat er Kristina geheiratet, nicht wahr?«
»Als sie Annelie erwartete. Und ich habe Ragnar geheiratet. Er ist ein so guter Mensch und ich dachte, ich könnte ihn lieben. Doch daraus wurde nichts.«
»Weiß Ragnar es?«
»Ja und nein. Es ist mindestens zwanzig Jahre her, dass wir darüber geredet haben. Aber die ganze Wahrheit habe ich ihm nie erzählt. Er weiß nichts von meinen Gefühlen.«
Elina beschloss, nicht locker zu lassen. Sie hielt immer noch Auroras Hand.
»Und Wiljam?«
»Er wusste Bescheid, jedenfalls vermute ich das. Ich glaube, er … hatte auch starke Gefühle für mich. Aber vielleicht war das auch nur ein Wunschdenken.«
Aurora Sundstedts Gesichtszüge verkrampften sich.
»Jetzt ist alles aus.«
»Warum hat er sich von Kristina scheiden lassen?«
»Sie wollte es. Obwohl sie ihn liebte. Er war ja nie da. Die Partei war sein Leben. Sie wollte einen Mann, keinen Parteigenossen.«
Sie lachte auf.
»Ich hätte ihn genommen, wenn er es nur über sich gebracht hätte, mich zu fragen.«
»War nach der Scheidung nichts zwischen Ihnen?«
»Ich habe es natürlich gehofft. Aber er hielt sich zurück. Wenn er gewollt hätte, hätte er auf mich zukommen müssen. Aber das hat er nie getan. Vielleicht aus Rücksicht auf Ragnar. Und auf die Partei.«
»Hatte er andere Frauen?«
»Vielleicht, aber keine festen Beziehungen, soweit ich weiß. Er hat weder mir noch Ragnar je etwas erzählt. Wie gesagt, die Partei war sein Leben.«
Elina ließ Aurora Sundstedts Hand los und sammelte sich wie zu einer letzten Attacke.
»Frau Sundstedt, ich habe versprochen, dass niemand etwas von unserem Gespräch erfährt. Können Sie mir dasselbe versprechen, wenn ich Ihnen jetzt eine Frage stelle? Ganz gleich, worum es geht?«
Aurora Sundstedt sah Elina mit gerunzelter Stirn an.
»Ja, das kann ich wohl. Worum geht es?«
»Glauben Sie … können Sie sich vorstellen, dass Wiljam Åkesson homosexuell war? Oder bisexuell?«
Die Reaktion war vollkommen unerwartet für Elina. Aurora Sundstedt begann lauthals zu lachen.
»Ich habe ja schon viel gehört«, sagte sie, als der Lachanfall abgeklungen war. »Aber das schießt den Vogel ab. Nein und nochmals nein. Wenn er noch etwas außer der Partei liebte, dann bestimmt keine Männer. Das ist vollkommen unvorstellbar. Nicht Wiljam.«
Plötzlich wandte sie sich ab und begann zu weinen. Elina nahm wieder ihre Hand und hielt sie sanft fest. Im selben Moment wurde die Haustür geöffnet. Ragnar Sundstedt zog die Schuhe im Flur aus und trat kurz darauf ins Zimmer.
»Entschuldigen Sie, dass ich mich verspätet habe. Ich
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