Elina Wiik - 02 - Sing wie ein Vogel
ich keine Erinnerung.«
Aha, dachte Elina. Also verloren.
»Versuchen Sie sich zu erinnern«, sagte sie. »Ich habe einen Grund zu fragen.«
»Was für einen Grund?«
Wieder erstarrte er. Elina schaute in zwei wachsame Augen.
»Das darf ich Ihnen leider nicht verraten.«
»Wie gesagt, daran habe ich kein Erinnerungsbild.«
»Ich spreche nicht von Bildern«, erklärte Elina etwas irritiert. »Bilder sind konstruierte Erinnerung. Ich habe nur gefragt, woran Sie sich erinnern, ganz spontan.«
»An nichts. Wenn er noch etwas anderes getan hat, steht das sicher in den Berichten. Und entschuldigen Sie, aber nach dreißig Jahren kann ich mich nicht mehr erinnern, was darin gestanden hat, selbst wenn ich sie damals vermutlich gelesen habe.«
Er zerdrückte die Kippe im Aschenbecher.
»Ich werde dafür sorgen, dass Sie Zugang zum Archiv bekommen.«
Elina erhob sich.
»Am liebsten sofort, wenn Sie so freundlich sein wollen. Ich möchte gleich hinfahren. Vielen Dank für den Kaffee.«
Das Archiv lag im Kellergeschoss des Rathauses. Elina trug sich in das Besucherbuch ein und wurde in einen Raum voller Regale geführt, in denen Archivkartons aufgereiht waren, jeder ordentlich gekennzeichnet.
Ein Abstieg in die Vergangenheit, dachte Elina.
»Sie sind chronologisch geordnet«, erklärte der Archivar und zeigte auf die Rücken. »Hier lagern die Papiere des Parteidistrikts bis 1996. Sie können sich zum Lesen dort an den Tisch setzen. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie Kopien haben möchten.«
»Danke, das werde ich.«
Elina suchte drei Kartons heraus, die mit »Eingegangene Akten 1972« beschriftet waren, hob alle drei gleichzeitig heraus und trug sie zu dem Tisch. Die Papiere waren mit der Maschine geschrieben, teils waren es Originale, teils mit Kohlepapier erstellte Kopien. Sie blätterte sich durch Protokolle von Besprechungen in verschiedenen Arbeiterkommunen in Västmanland und Briefe von Menschen, die aus allen möglichen Gründen an den Parteidistrikt geschrieben hatten. Im ersten Karton, der bis zum 22. April 1972 reichte, stieß sie auf nichts Interessantes. Ihr war nur aufgefallen, wie alltäglich politische Arbeit sein konnte.
Im zweiten Karton gab es zunächst viele Dokumente, die sich mit den Demonstrationen zum 1. Mai in der Provinz beschäftigten. Die Vietnamfrage war Teil der Vorbereitungen jeder einzelnen Demonstration. Sie sah, dass Åkesson gebeten worden war, darüber in Köping zu sprechen.
Einige Dutzend Papiere weiter fand sie es. »Bericht über einen Freundschaftsbesuch in Nordvietnam«, lautete die Überschrift. Es war nur ein DIN-A4-Blatt. Ganz unten stand Wiljam Åkessons Unterschrift. Ihr Puls wurde ein wenig schneller.
Der Bericht handelte in erster Linie von verschiedenen Arbeitsstätten, die die Delegation besucht hatte, und beinhaltete kurze Statements dazu, was das »Verantwortungskomitee der Arbeiter« zum entschlossenen Widerstand gegen den US-Imperialismus gesagt hatte. Åkesson schien sich überwiegend in der Hauptstadt und im nächsten Umkreis auf dem Lande aufgehalten zu haben. Die Reise hatte er im April 1972 unternommen.
Elina bat den Archivar um eine Kopie des Berichts. Während sie wartete, blätterte sie weiter in den Dokumenten. Es folgten zwei Besprechungsprotokolle. Auf dem nächsten Dokument stand mit Bleistift »Vertraulich«. Elina leckte an ihrem linken Daumen, um das Papier zu greifen.
»Zusammenfassung des Einflusses der Ultralinken auf die Vietnambewegung in Västerås«, lautete die Überschrift. Das Papier war auf den 8. Mai 1972 datiert, der Tag, nachdem Wiljam Åkesson seinen Reisebericht über Vietnam geschrieben hatte.
Das Dokument enthielt Betrachtungen darüber, in welchem Ausmaß die FNL-Bewegung durch die Vietnamarbeit in der Stadt dominiert wurde und wie schwach der Einfluss der Sozialdemokraten war. Dann folgten eine Aufzählung der Namen von Führungsmitgliedern der lokalen FNL-Gruppe und ein Kommentar: »Alle sind Mitglieder der Kommunistischen Partei oder können als Sympathisanten der Organisation gelten.«
Elina blätterte zurück zu Åkessons Reisebericht und verglich das Schriftbild. Es schien dasselbe zu sein. Eine genauere Untersuchung würde zeigen, ob die beiden Berichte auf derselben Schreibmaschine geschrieben worden waren. Sie schaute sich die Buchstaben genau an. An den Rändern waren sie ausgefranst.
Beides sind Kopien, dachte sie. Ich muss überprüfen, ob sich die Originale in dem Archiv in Stockholm befinden, dessen Namen
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