Elina Wiik - 03 - Der tote Winkel
Einzige im Dezernat, der ohne weiteres akzeptierte, dass sie immer ihren eigenen Kopf durchsetzte. Dass sie nicht immer alles sofort erzählte und nach ihrer eigenen Vorstellung vorging, obwohl sie zusammenarbeiteten. Es kümmerte ihn auch nicht, dass er manchmal nach ihrer Pfeife tanzen musste. Eines schönen Tages würde sie ihm dafür ein Diplom geben.
Bei der Lektüre der Artikel sah Elina ein, dass sie nicht die Erste war, die sich in diesen Untergrund begeben hatte. Agnes Khaled war in dieser Hölle richtiggehend zu Hause. Sie kleidete das, was Elina am Vorabend gesehen hatte, in Worte. Worte verzweifelter, verängstigter und trauriger Menschen. Und an der Oberfläche eine andere Wirklichkeit. Regeln, Vorschriften, Paragraphen auf dem Papier. Menschen mit einem festen Einkommen, Menschen mit Macht über andere. Menschen, denen die Welt gehörte. Hörten sie die Proteste?
»Die Erde gehört uns allen«, hatte Agnes Khaled einen zweiunddreißigjährigen Ingenieur zitiert, der an der technischen Fakultät der Universität Bagdad studiert hatte und jetzt in einem Haus im Wald in Mittelschweden saß. »Sie gehört den Menschen und den Tieren. Dürfen die Fische nicht in allen Meeren schwimmen? Wer hat das Recht zu bestimmen, dass ich nicht wohnen darf, wo ich will? Warum darf ein Land ein Gefängnis sein? Nicht nur in den Augen seines Herrschers, sondern auch in denen der Welt?«
Die Namen der Männer waren genannt, manchmal auch die ihrer Frauen und Kinder. Im Textarchiv fehlten die Fotos, aber Elina konnte sich die Bilder vorstellen. Kinder, die sich in die Arme ihrer Eltern flüchteten. Kinder, die nichts verstanden. Kinder, die spielen und glücklich sein wollten. Kinder, die keine Kinder sein durften.
Sie ging die Texte systematisch durch. Sie suchte nicht nur nach den Namen, die Svalberg bereits aufgelistet hatte, sondern auch nach neuen Informationen aus Agnes Khaleds Feder. Elina versuchte, ein Muster zu entdecken.
In drei Fällen hatte Agnes Khaled selbst die neuen Umstände entdeckt. Wie das zugegangen war, blieb unerwähnt. Eine Quelle wurde nicht genannt. In einem der Fälle, und zwar in dem Jamals, handelte es sich um eine Enthüllung. Agnes Khaled konnte zeigen, dass Dokumente existierten, die die Migrationsbehörde nicht berücksichtigt hatte. In den zwei letzten Fällen fand Elina keine neuen Informationen, alles war bereits vorher bekannt gewesen. Agnes Khaled schien nur über diese Fälle geschrieben zu haben, weil sie die Entscheidungen für inhuman hielt. In beiden Fällen ging es darum, dass die Migrationsbehörde Familien trennen wollte, ein Elternteil und eines der Kinder hätten bleiben dürfen. Den anderen Elternteil und die übrigen Kinder hatte man ins Heimatland zurückschicken wollen.
Sie schrieb auf, worin die neuen Informationen in jedem einzelnen Fall bestanden. Das Gespräch mit dem Anwalt ging ihr noch durch den Kopf. Ahmed Qourir hatte versucht, Informationen zu verkaufen. Woher erhielt er die?
Sie schaltete ihren Computer ein und ordnete ihre Gedanken, indem sie alles niederschrieb, was sie wusste. Qourir hatte Kontakt zu Katarina Diederman gehabt. Das Ehepaar Diederman hatte von Yngve Carlström unter falschem Namen in Schweden eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Yngve Carlström war in Sachen Jamal der Informant der Länstidningen gewesen. Wahrscheinlich war er auch in den anderen Fällen, über die Agnes Khaled geschrieben hatte, die Quelle gewesen. Der Kreis schloss sich.
Elina erhob sich und begab sich zu John Roséns Büro. Auf dem Weg bat sie Henrik Svalberg, sich ihr anzuschließen.
»Yngve Carlström ist also nicht nur ein gewissenhafter Mann, dem das Schicksal der Flüchtlinge am Herzen liegt«, sagte Rosén, nachdem sie die Zusammenhänge erläutert hatte, »er verdient sich auch noch etwas dazu, indem er Informationen weiterbefördert.«
»Kann schon sein«, erwiderte Elina. »Vielleicht war ja Ahmed Qourir sein Strohmann.«
»Und die Informationen an die Länstidningen?«
»Wer weiß, wie das abgelaufen ist«, meinte Elina. »Vielleicht war da ja auch Geld im Spiel.«
»Können wir nicht die Leute fragen, die aufgrund der Artikel bleiben durften?«, meinte Svalberg. »Drei von denen müssten noch in Schweden sein. Schließlich kennen wir ihre Namen.«
»Ich bezweifle, dass sie uns in dieser Sache reinen Wein einschenken«, erwiderte Elina. »Damit würden sie riskieren, dass ihr Fall noch einmal überprüft wird und dass man sie ausweist. Wir sollten
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