Elina Wiik - 03 - Der tote Winkel
ein Kind zu verlieren. Während sie heranwachsen, macht man sich ständig Sorgen. In der Zeitung liest man davon, was anderen zustößt. Aber niemand kann verstehen, wie es ist, wenn es einem nicht selbst passiert ist. Für Disa ist es noch schlimmer. Sie hätte fast nicht bei der Beerdigung dabei sein können. Sie nimmt Medikamente. Wir haben beide noch nicht wieder angefangen zu arbeiten.«
Er verstummte. Henrik Svalberg wartete.
»Vielleicht wäre es uns ja leichter gefallen, wenn der Mord aufgeklärt worden wäre«, meinte Lennart Lilja mit einer gewissen Schärfe in der Stimme. »Die Erklärung, die wir erhalten haben, können wir einfach nicht glauben. Und wenn es so ist, warum ist es dann unmöglich, den Mörder zu finden?«
Henrik Svalberg zögerte.
»Herr Lilja«, sagte er nach einer Weile, »die Ermittlung ist wieder eröffnet worden. Aus Rücksicht auf Sie haben wir noch nichts gesagt, weil wir erste Fortschritte abwarten wollten.«
Lennart Lilja starrte Svalberg an.
»Was für Rücksichten?«
»Vielleicht verfehlte. Aber jedes Mal, wenn man sich mit Angehörigen in Verbindung setzt, reißt man Wunden wieder auf. Wir wollten einen handfesten Anlass haben, wieder mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Den habe ich jetzt durch Ihren Anruf erhalten.«
»Was ist passiert? Warum hat man die Ermittlung wieder aufgenommen?«
»Wir glauben, dass eine Verbindung zu Jamals Cousin besteht, also dem jungen Mann, der vor bald drei Jahren verschwand.«
»Wie kann das sein?«
»Der Cousin sollte nach Schweden geschmuggelt werden. Wir haben eine Verbindung zwischen den Schleusern und dem dritten Mordopfer, Ahmed Qourir, entdeckt.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Dort schließt sich der Kreis. Von den Schleusern über Sayed zu Jamal, der Kontakt zu Qourir hatte. Und Qourir hatte Kontakt zu den Schleusern.«
»Waren Jamal und Annika in etwas Ungesetzliches verwickelt?«
»Nein, nein, so meinte ich das nicht. Jamal wollte in Erfahrung bringen, was Sayed zugestoßen sein könnte. Das ist seine Rolle in dieser Verkettung. Und Annika – sie kannte Jamal.«
Lennart Lilja schloss lange die Augen. Er begann zu sprechen, ehe er sie wieder öffnete.
»Ich verstehe. Ich glaube, ich verstehe. Und diese andere Theorie über die Terroristen?«
»Das eine muss das andere nicht unbedingt ausschließen. Aber wir wollen uns Gewissheit verschaffen.«
»Wir auch«, sagte Lennart Lilja.
Henrik Svalberg räusperte sich.
»Wir haben uns … schon einmal mit Ihrer Frau und Ihnen unterhalten. Damals wussten wir noch nicht, was wir heute wissen, also über Sayed. Darf ich Ihnen jetzt einige weitere Fragen stellen?«
»Gewiss, wenn es Ihnen weiterhilft.«
»Was wussten Sie über Jamals Cousin und über dessen Verschwinden?«
»Fast nichts. Aber Annika hat erzählt, dass Jamal versucht hat herauszufinden, was ihm zugestoßen sein könnte. Das ist vermutlich alles, was ich weiß.«
»Was hat Annika genau gesagt?«
Lennart Lilja schüttelte den Kopf.
»Daran erinnere ich mich nicht. Sie erzählte einfach nur davon.«
»Wie haben Sie reagiert?«
»Ich habe gesagt, er solle sich an die Polizei wenden. Obwohl …«
»Obwohl was?«
»Jamal wollte das nicht.«
»Er wollte das nicht? Hat Annika gesagt, warum?«
»Ja, wenn ich jetzt nachdenke, hat sie das in der Tat getan. Jamal glaubte nicht, dass die Polizei ihm helfen würde.«
»Warum?«
»Das weiß ich nicht. Sie sagte einfach: ›Jamal glaubt nicht, dass die Polizei ihm helfen will.‹«
Elina saß in ihrem Wagen, als Yngve Carlström mit drei weiteren Personen aus dem Bürohaus trat. Kollegen, dachte sie. Sie gingen in Richtung Fußgängerzone die Straße entlang. Elina ließ ihnen etwas Vorsprung und stieg dann aus dem Auto. Sie folgte ihnen auf dem Bürgersteig auf der anderen Straßenseite. Nach ein paar hundert Metern betraten sie ein Restaurant.
Elina schaute auf die Uhr. Fünf nach halb zwölf. Wenn sie die ganze Mittagspause dort verbrachten, dann war sie für die Kälte zu dünn gekleidet. Sie sah sich nach einem Laden um, entdeckte aber keinen. Stattdessen ging sie zu ihrem Wagen zurück und parkte in der Nähe des Restaurants.
Nach vierzig Minuten kam das Quartett wieder aus dem Restaurant und ging auf direktem Weg zurück zum Arbeitsplatz.
Das erste Antwortfax traf nachmittags um Viertel vor zwei ein. Die deutsche Polizei teilte mit, drei Angehörige einer afghanischen Familie mit Angehörigen in Frankfurt seien seit Januar 2001 vermisst gemeldet.
John
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