Elizabeth - Tochter der Rosen
goldenen und weißen Ornat hielt die Heilige Schrift in der einen und ein juwelenverziertes Kruzifix in der anderen Hand. Er wartete seitlich an der Wand, bis er gebraucht wurde.
König Richard griff über die graue Samtdecke nach einer kalten Hand der Königin und umfasste sie mit beiden Händen. Die Königin atmete in kurzen, angestrengten Stößen. Sie spürte wohl, dass er bei ihr war, denn nun öffnete sie die Augen und versuchte, etwas zu sagen. Ihr Gemahl neigte sein Ohr zu ihren Lippen.
Ein Ausdruck fürchterlichsten Schmerzes trat auf seine Züge, und er brauchte einen Moment, um sich zu fassen. Dann begann er zu singen:
» Ja, oh, ja, wie der Wind die Dornen knickt!
Der Wind, der das Gras niederdrückt!
Denn es war im Maien, und Blumenpracht schmückte die Erde ...
Wein, Wein – und dich zu lieben ich nie müde werde,
bis alle Träume ausgeträumt ...«
Seine Stimme war tief und volltönend, und die Worte, die anfangs nur zögerlich kamen, klangen beständig kräftiger und fließender. Er sang von Rehen, vom Zwielicht, dem Wind und dem Wasser: ein Lied, das, wie ich wusste, aus ihrer beider Jugend stammte.
Die Königin wurde ruhiger, und ein zartes Lächeln umspielte ihren Mund. Dann stöhnte sie, und sogleich fragte der König besorgt:
»Was ist, mein kleines Vögelchen?«
Ich konnte ihre Antwort deutlich verstehen. »Ich warte ... auf dich ... im Himmel.«
Der König neigte sich erneut zu ihr, strich ihr sanft mit den Lippen über Haar, Stirn und Wangen. »Meine Liebe«, flüsterte er, »meine teuerste Liebe ...«
Als sich ihre Augen schlossen, kniete er sich neben sie. Die Mönche stimmten ihren leisen Gesang an.
»Richard ...«, murmelte sie unruhig.
»Ich bin hier, mein Blümchen«, sagte er und streifte ihre feuchte Stirn mit seinem Mund. »Ich verlasse dich nicht, Anne. Niemals werde ich dich verlassen.«
Die Königin sprach wieder, und ich hörte meinen Namen, Elizabeth ... Mehr nicht. Sie rang nach Luft.
»Schhh, Anne, schhh«, flüsterte König Richard. Er hielt ihre Hand und redete mit bleichen, bebenden Lippen leise auf sie ein.
Königin Anne riss die Augen weit auf und sah ihn an. IhreAugen waren von reinstem Violett und schienen von innen zu leuchten.
»Weine nicht um mich, mein geliebter Richard!«, bat sie mit einer starken, klaren Stimme.
Der König starrte sie ebenso verwundert an wie alle anderen, die in Hörweite standen. Hoffnung flutete meine Brust, so wie es ihm auch gehen musste. Ein Lächeln erstrahlte auf seinem Gesicht, und ich wusste, dass wir beide denselben Gedanken hatten: Gott hat meine Gebete erhört! Sie wird gesund!
»Blümchen, meine Anne!«, rief der König freudig.
Sie hob eine Hand an seine Wange.
»Ich werde Ned wiedersehen«, hauchte sie lächelnd, bevor ihr Arm kraftlos nach unten sank.
»Anne!«, rief König Richard ängstlich. » Anne! «
Stille.
Der König legte den Kopf auf ihre Brust, klammerte sich an sie und stieß ein ersticktes Stöhnen aus.
Und während der König trauerte, geschah etwas so Furchtbares, dass ich ungläubig einen Schritt vortrat. Der Erzbischof hatte sein großes, von Edelsteinen verziertes Kruzifix erhoben und machte das Kreuzzeichen über der toten Königin, brach jedoch mitten im Totengebet ab. Er blickte durchs Fenster hinauf zum Himmel. Auch die Mönche sahen auf, folgten dem Blick des Erzbischofs und beendeten ihren Gesang mit einem stummen Schrei. Die Diener fielen auf die Knie und bekreuzigten sich ängstlich. Alle schauten regungslos hinauf zum Himmel.
Scheinbar von einem Augenblick zum nächsten war der Tag zu finsterer Nacht geworden. Bis auf die flackernden Kerzen war alles Licht fort, und es herrschte eine beklemmende, unheimliche Stille. Kein Vogel zwitscherte, keine Kirchenglocke läutete, kein Laut von Mensch oder Tier. Wo eben noch dieSonne geschienen hatte, war nichts als ein Schatten. Die mächtige Sonne war von der Hand Gottes verdunkelt worden.
An seine tote Königin geklammert, die bleich und stumm wie eine Marmorstatue dalag, stöhnte der König. Schließlich bemerkte er die Stille und die Dunkelheit, die sich über ihn gesenkt hatte, sah auf und drehte sich um, ehe er aufstand und ans Fenster trat.
Wie er dort stand und den Kopf in beide Hände neigte, war er der Inbegriff der Seelenpein. Weder rührte er sich, noch sagte er etwas. Ich konnte seine Qualen nicht länger ertragen und ging zu ihm. »Es sind so viele Engel gekommen, sie in den Himmel zu führen, dass
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