Ella und die falschen Pusteln
Wir fanden sie ganz schön komisch, aber vielleicht mussten Künstler so sein.
»Das nächste Gemälde erzählt – ich darf doch ›erzählen‹ sagen?«, fragte die Tante.
Der Lehrer lächelte ihr genauso freundlich zu, wie er uns in der Schule immer zulächelt, wenn wir uns blöd anstellen und er uns trotzdem Mut machen will.
»Dieses Gemälde erzählt also eine Geschichte. – Erinnert ihr euch an das Märchen von Rotkäppchen und dem Wolf?«
Natürlich erinnerten wir uns daran.
»Mein Gemälde erzählt die Geschichte aus einer etwas anderen Perspektive. Hier verwandelt sich der Betrachter sozusagen in den Wolf ...«
Die Tante warf dem Lehrer einen Blick zu, und der schüttelte freundlich lächelnd den Kopf.
»Na schön, der Betrachter verwandelt sich nicht in den Wolf. Stattdessen stellen wir die Sache auf den Kopf und ... «
»Stopp!«, rief der Lehrer. »Wir stellen nichts und niemanden auf den Kopf, ist das klar?«
Wir nickten und taten es nicht, nur für Pekka kam das Kommando zu spät. Er hatte sich schon auf den Kopf gestellt, und der Lehrer stellte ihn zurück auf die Füße. Wir anderen starrten mit weit aufgerissenen Augen auf das Gemälde, aber wir sahen nur Wolken von schwarzer und roter Farbe. Dann starrten wir die Künstlertante an, und sie starrte genauso zurück.
»Na schön«, sagte sie. »So viel zu dem Gemälde in Schwarz und Rot, bei dem wir uns vorsichtshalber gar nichts vorstellen.«
Dann gingen wir zu einer der Statuen auf weißen Sockeln, und die gefiel uns richtig gut. Es war ein aus Stein gemeißeltes Mädchen mit einem jungen Kätzchen im Schoß.
»Dies ist eine Statue«, sagte die Tante und schaute dabei den Lehrer an, der freundlich nickte.
Wir schauten solange die Statue an und gaben uns Mühe, sie auf eine neue Art zu sehen, wie der Lehrer gesagt hatte. Aber sosehr wir uns auch anstrengten, sie sah immer noch aus wie ein Mädchen mit einem Kätzchen. Es war wie verhext. Dabei wussten wir genau, dass das nicht sein konnte. Wenn ein roter Punkt ein Baby war und rote und schwarze Wolken ein ganzes Märchen erzählten, dann musste auch das Mädchen mit dem Kätzchen mehr als bloß ein Mädchen mit einem Kätzchen sein.
Pekka war der Erste, dem was einfiel. »Es soll noch mal Rotkäppchen sein«, vermutete er. »Aber warum ist der Wolf so klein?«
Die Künstlerin schaute abwechselnd uns und ihre Statue an. Sie sah irgendwie aus, als wüsste sie es auch nicht. Dann schaute sie zum Lehrer hin, aber der zuckte nur die Achseln.
»Äh ... ja … so viel zur Ausstellung«, sagte die Künstlertante. »Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
»Na, sehen Sie, das ist doch wunderbar gelaufen«, sagte der Lehrer und klopfte der Tante anerkennend auf die Schulter.
»Danke«, sagte die Tante. »Aber ein bisschen nervös war ich schon. – Gut, dass Sie dabei waren! Mit Ihrer Erfahrung haben Sie mir sehr geholfen.«
»Alles nur Übungssache«, sagte der Lehrer bescheiden. »Das gilt für die Schule und genauso für zu Hause. Wenn Sie dafür noch einen kleinen Rat haben wollen: Sehen Sie zu, dass morgens und abends die Zähne geputzt und die Schlafenszeiten eingehalten werden, schaffen Sie den Computer aus dem Kinderzimmer, und lassen Sie sich nicht auf Diskussionen ein. Der Salat wird aufgegessen und Schluss! Lernen Sie, Nein zu sagen. ›Nein‹ ist das Elternwort Nummer eins und der Anfang aller Erziehungskunst.«
»Danke«, sagte die Künstlertante.
»Nichts zu danken«, sagte der Lehrer. »Wenn wir Künstler einander nicht helfen, wer dann?«
Als wir unsere Sachen von der Garderobe holen gingen, sahen wir die Tante im Büro hinter dem Schalter für die Eintrittskarten. Sie machte gerade das Medizinschränkchen auf. Wahrscheinlich bereitete sie sich auf die nächste Führung vor.
Auf dem Rückweg zur Schule kamen wir uns ganz schön zivilisiert vor. Die Kunstausstellung hatte uns richtig gut gefallen. Nur die Augen taten uns ein bisschen weh, aber das muss bei Kunst vielleicht so sein.
In den Nachrichten
Auch der Lehrer war mit der Kunstausstellung zufrieden. Er fand, der Besuch hätte uns gutgetan und der Künstlerin bestimmt auch.
Als wir zur Schule zurückkamen, stand da ein großer Lieferwagen, unter dem sich dicke Kabel ringelten. Es war ein Übertragungswagen vom Fernsehen, derselbe, der schon auf dem Schulhof gestanden hatte, als Pekka ein Rockstar war. 4) Ein paar von den dicken Kabeln hatten die Fernsehleute genau wie letztes Mal ins Schulhaus verlegt, aber diesmal
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