Elli gibt den Loeffel ab
allerdings runter wie Honig. »Sechzig«, sagte sie, um so wenig Stolz wie möglich in der Stimme bemüht. Es sollte lässig und selbstverständlich klingen.
»Sie haben sich gut gehalten.«
»Und Sie?«
»Ich bin achtundfünfzig«, erwiderte er.
Sie hatte ihn auf maximal Anfang fünfzig geschätzt.
»Junges Gemüse«, erwiderte er und lachte lauthals los.
»Ich finde, man sollte zu seinem Alter stehen und es genießen — in jeder Lebensphase«, sagte sie ihm.
»Man muss gar nichts. Alter ist etwas Individuelles. Mir schreibt jedenfalls niemand vor, wie ich mich zu fühlen oder zu geben habe.«
Ein weites Feld über die Theorie des Alters tat sich auf, und zu Ellis großem Erstaunen verging die Fahrt bis Verona wie im Flug. Bis Bologna hatten sie außerdem sämtliche interessanten Reiseerlebnisse ausgetauscht. Ihr wurde bewusst, wie sehr sie lange Gespräche über Gott und die Welt in den letzten Jahren vermisst hatte.
Wer war Dieter Bohlen wirklich? Diese Frage beschäftigte Dorothea immer noch, als sie sich mit ihrem Smart Fortwo in eine kleine Parklücke vor ihrer Wohnung, einem roten Backsteinhaus im Hamburger Hafenviertel, zwischen zwei protzige BMWs quetschte. Ein genialer Geschäftsmann mit trivialem Pragmatismus im Blut, ein Motivations-Messias, der öffentlich und sogar auf Seminaren für Topmanager Sinn und Zweck harter Arbeit erklärte? Oder einfach nur ein Prolet mit massentauglichem Geschmack, der sich gut zu vermarkten wusste?
Vielleicht hätte sie dies sogar herausgefunden, wenn sie nicht im Stau nach Köln, wo sie ihn hätte interviewen sollen, stecken geblieben wäre. Ein Verriss über ihn war trotzdem so gut wie sicher. Etwas anderes erwartete die Feuilletonredaktion des Hamburger Tageblatts, für die sie nun schon seit über fünfzehn Jahren als gefürchtete Kulturkritikerin mit messerscharfer Feder und einer ordentlichen Portion Zynismus malochte, auch gar nicht. Ihr konnte keiner erzählen, dass es bei den meisten Fernsehshows um Talent ging.
Vielmehr hatte sie den Eindruck, dass die Sendungen immer mehr zum Auffangbecken von Asozialen, Neurotikern, Arbeitslosen und ehemaligen Knackis wurden. Schließlich wollten die Sender ihren Zielgruppen gerecht werden.
Immerhin hatte sie es geschafft, der Casting-Veranstaltung in Köln beizuwohnen und einige Interviews zu führen, die ihr tiefe Einblicke ermöglichten. Fast jeder Zweite, den sie fragte, warum er hier sei, gab ihr >rappend< zur Antwort, dass er ein Superstar werden wolle. »Hey, Mann, ich seh gut aus, Mann, geile Fresse, geile Stimme, geiler Arsch. » Auf dieses Zitat des siebzehnjährigen Jungen, der in seinem Muskelshirt und seinen Baggy Pants, deren Gürtellinie sich direkt über seinem Knie befand, wie eine Karikatur aussah, freute sie sich jetzt schon. Dorothea fieberte dem Verriss regelrecht entgegen. Gewürzt mit gesalzenen Statistiken, die bewiesen, dass der Produktlebenszyklus dieser vermeintlichen Superstars immer kürzer wurde, würde ihr Artikel sicherlich Beachtung finden.
Wo war nur ihr Hausschlüssel? Wieder einmal unauffindbar. Und dann noch das zerzauste Haar. Dorothea musterte sich in der Scheibe der verglasten Eingangstür und zupfte die vom Wind zerwühlten roten Haarsträhnen erst einmal in Form. Der Hausschlüssel würde in ihrer Prioritätenliste erst nach vorne rücken, wenn sie sich sicher sein konnte, dass sie wieder salonfähig war. Just als sie in die Umhängetasche fasste, klingelte ihr Handy. Ein Teil der Unterlagen, die sie sich in die Armbeuge geklemmt hatte, glitt bei dem Versuch, ihre Handtasche zu durchwühlen, zu Boden. Das Chaos war perfekt. Immerhin war das Telefon ausnahmsweise sofort zur Hand.
»Hallo? Menning?
»Ich bin’s.«
Ein devotes »Ich bin’s« aus dem Munde ihrer Tochter konnte nur eines bedeuten: Mama, ich brauche Geld.
»Anja.« Sie bemühte sich, einen Hauch von freudiger Überraschung in ihre Stimme zu legen, was angesichts der zu erwartenden monetären Forderungen nicht einfach war.
»Bist du schon zurück? Wie war’s?«, fragte Anja, obwohl sie es ganz sicher nicht wissen wollte.
Für Smalltalk hatte Dorothea jedoch keine Zeit. Der Artikel musste bis morgen fertig werden. Andererseits durfte sie beim Aufklauben des auf der Straße verteilten Recherchematerials keine Zeit verlieren.
»Wie immer: stressig.«
»Mama, ich stecke in der Klemme.«
Surprise, surprise! »Wie viel?«, kürzte Dorothea gleich
ab.
»Ich habe nächste Woche ein Vorstellungsgespräch und
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