Elli gibt den Loeffel ab
Doro hatte keinen Sinn für Romantik oder Nostalgie. Daran hatte sich in den letzten Jahren wohl nichts geändert.
»Ich meine ja auch ganz früher. Zur Zeit der Römer.«
»Tiberius hat es sich hier bestimmt gutgehen lassen. Hat hier einfach Dauerurlaub gemacht und von einer Trauminsel aus bequem die Welt regiert — nicht schlecht. Ich sollte einen Artikel über ihn schreiben.«
»Wusstest du, dass Capri erst in der letzten Eiszeit zu einer Insel geworden ist?«
Doro zog die Augenbrauen hoch, ein untrügliches Zeichen, dass sie ihrer Schwester so viel Wissen gar nicht zugetraut hätte. Immerhin war sie die gescheite Journalistin und Elli bloß der verträumte Kinotrottel. Mal einen Punkt gegen Doro zu erzielen machte Elli daher richtig Spaß.
Wie eine Seehundkolonie in der Brunftzeit tummelten sich Touristen und Einheimische am hoffnungslos überfüllten Strand, einem der wenigen, die es überhaupt auf der Insel gab. Wenn Dorothea sich recht erinnerte, waren die einzigen schönen Strände, die Capri zu bieten hatte, schwer zugänglich oder in öffentliche Bäder umfunktioniert worden — gegen Bares versteht sich. Zu den kleinen, direkt an Steilhängen gelegenen Buchten musste man oft regelrecht klettern, zumindest brauchte man aber eine gute Kondition. Dann doch lieber Karibik oder Gran Canaria mit ihren schönen, weitläufigen Stränden. Steinstrände waren sowieso nicht ihr Ding. Entweder die Steine waren zu heiß oder so spitz, dass sie sich wie Messerstiche in die Fußsohlen anfühlten.
Gut, dass sie erst einmal einen Tisch in einer der Bars direkt am Wasser ergattert hatten. Hier galt es nun so lange auszuharren, bis sich der Touristenstrom deutlich ausgedünnt und Elli ihren nostalgischen Anflug überwunden hatte. Bloßes Wunschdenken! Ein Blick in das verklärte Gesicht ihrer Schwester genügte, um zu wissen, dass sie sich auch noch einen zweiten Drink genehmigen musste.
»Da unten. Dort haben wir doch immer gespielt. Erinnerst du dich noch an deinen giftgrünen Badeanzug, den dir Mama gekauft hat?«, säuselte Elli offenkundig nostalgietrunken.
Richtig, das potthässliche Teil. »Wie könnte ich den vergessen? Er stand mir doch so gut«, versuchte sie ihre Schwester mit spitzer Ironie zu desillusionieren.
Hoffentlich riss Elli nicht noch mehr alte Wunden auf. Den blumenbesetzten Wunschbikini hatten ihre Eltern ihr stoisch verweigert. Zu teuer, hatte es geheißen. Das grenzte ja fast an Kindesmisshandlung! Wie hatte sie sich am Strand geschämt. Ein Psychologe würde dieses Erlebnis wohl als einen einschneidenden Wendepunkt in ihrem Leben bezeichnen. Vielleicht sogar als den Moment, in dem sie beschlossen hatte, sich von niemandem mehr etwas aufdrängen oder sagen zu lassen, weder von ihren Eltern noch vom Rest der Welt.
»Ich finde, das war eine verdammt schöne Zeit«, schwärmte Elli mit Blick auf das Meer.
Kein Wunder, dass sie immer so gut drauf war. Aus ihr hatten ihre Eltern damals ja auch keinen Laubfrosch gemacht. Elli hatte ihren rosa Wunschbikini mit den weißen Streifen bekommen. Wenn auch angeblich nur, weil er sehr günstig war. Damals war Dorothea diese Erkenntnis jedoch nicht in den Sinn gekommen. Es ging darum, dass Elli immer alles haben durfte, was sie wollte, und sie nicht. Das Nesthäkchen, Mamas und Papas Liebling, dem man keinen Wunsch abschlagen konnte.
»Wenn ich ehrlich bin, war ich an keinem Ort der Welt jemals so glücklich wie hier«, führte Elii ihre Sirenengesänge fort.
Einfach unerträglich.
»Das hat die Jugend so an sich, meine Liebe. Wenn uns unsere Eltern jedes Jahr in die Lüneburger Heide geschleppt hätten, hätte das den gleichen Effekt gehabt.«
»Nein, Capri hat etwas ganz Besonderes. Immer noch.« In an Pathos nicht zu überbietender Weise inhalierte Elli bedeutungsschwanger die Luft und schloss genießerisch die Augen.
Wie auf Droge und Ellis Drogen waren mit Sicherheit ihr Hang zur hoffnungslosen Romantik und die Fähigkeit, sich in eine Parallelwelt hineinzuträumen, die anscheinend nur sie sehen konnte. Sie kannte Elli gar nicht anders. Schon als Kind hatte sie eine übersprudelnde Phantasie. Selbst das schlichteste Erdloch war zum verwunschenen Elfengefängnis mutiert, die Bauruine zum Schloss und das Klettergerüst zum Mast eines Piratenschiffs. Beneidenswert, wenn man auch im Alter noch in der Lage war, das Schöne einfach aus allem herauszufiltern.
Darm war ihre Schwester unschlagbar, und nichts regte Dorothea mehr auf. Das Einzige, was
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