Elli gibt den Loeffel ab
stößt auf die finstersten Abgründe der eigenen Mutter.«
Elli kam aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. Zu dem emotionalen Tumult, den ihre Schwester bereits in ihr ausgelöst hatte, gesellte sich nun auch noch Fassungslosigkeit.
»Warum hast du mir nie etwas davon erzählt?«
»Du hättest es nicht verkraftet.«
Damit hatte Doro wohl recht. Die Frage war nur, ob sie es jetzt verkraften würde. Mal eben en passant zu erfahren, dass die eigene Mutter eine geheime Liebschaft gehabt hatte, war nicht ganz einfach wegzustecken. Eine Art Leichenstarre ergriff augenblicklich Besitz von ihr. Sie konnte gar nicht anders, als ihre Schwester anzustarren.
»Alessandro...«, stammelte sie.
»Vielleicht hat er sie so sehr geliebt, dass er ihr etwas vermachen wollte. Oder er ist unser leiblicher Vater. Eine andere Erklärung gibt es nicht.«
»Aber Mama hätte doch nie...«
»Ja, was denkst du denn? Jedes Jahr Capri. Hat da bei dir etwa nie ein Glöckchen geklingelt? Selbst als Papa tot war, ist sie immer noch auf diese verdammte Insel gefahren.«
Pause! Das konnte kein Mensch auf einen Schlag verdauen. »Und Papa?«
»Der hat anscheinend nichts gemerkt. Darüber komme ich übrigens bis heute nicht hinweg. Das muss man doch mitbekommen, aber anscheinend hatte Mama es faustdick hinter den Ohren.«
Von der Heiligen zur Hure. Das wurde ja immer besser. Diese Enthüllung konnte de facto nur bedeuten, dass sie tatsächlich Erbinnen waren.
»Ich frage mich nur, warum Fabrizio in dem Schreiben an mich nichts von dem Brief an dich erwähnt hat.«
»Frag mich was Leichteres!«
Kapitel 7
»Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt«, trällerte ein mit einer schweren Digitalkamera bewaffneter deutscher Tagesausflügler in bester Urlaubsstimmung. Leider mit ziemlich schräger Stimme, die nur vom Lärm der Motoren etwas gedämpft wurde.
Vom Deck aus beobachtete Elli, wie die Fähre ihre Pforten öffnete und die ersten Touristen auf den langen Landungssteg entließ, der direkt zur Marina Grande führte. An diesem Dreh- und Angelpunkt kam kein Capri-Besucher vorbei.
»Bella, bella, bella Marie, vergiss mich nieeeee.« Der Mann konnte den Mund einfach nicht halten.
Rudi Schuricke würde sich im Grab umdrehen. Selbst die Kinder des selbsternannten Sängers verdrehten bereits die Augen. Offenbar schämten sie sich für ihren Vater, der die Blicke aller Anwesenden auf sich zog.
»Ist das ein sehr berühmtes Lied?«, fragte eine japanische Touristin auf Englisch, aber der Mann verstand sie offenbar nicht. »Berühmt« war gar kein Ausdruck. Der Schlager war sozusagen der Inbegriff aller Capri-Sehnsüchte der Deutschen, die in den Siebzigern sogar ein Ford-Modell nach der Insel benannt hatten.
Vor Elli lagen zehn Quadratkilometer perfekte Italien-Nostalgie, bewohnt von knapp dreizehntausend Einheimischen, die jeden Tag mehrere tausend einfallende Touristen zu verdauen hatten — zumindest stand es so in der Broschüre, die sie am Fährhafen mitgenommen hatte.
»Sieht alles noch genauso aus wie damals«, bemerkte Doro, leicht genervt vom Schub der nachrückenden Passagiere, die ihr Tagesprogramm anscheinend möglichst schnell in Angriff nehmen wollten, da sie nur wenige Stunden auf der Insel hatten. Im Nu hatte sich das friedliche Hafennest in eine bunte Ameisenkolonie verwandelt. Wenn Lenin, Joseph Beuys, Jean-Paul Sartre oder Oscar Wilde dies zu ihrer Zeit schon erlebt hätten, wären sie ganz bestimmt nicht immer wieder hierhergekommen, dessen war Elli sich sicher. Wie Capri wohl vor Wiederentdeckung der Blauen Grotte ausgesehen hatte? Ellis Blick streifte die Hafenmauer, die ganz offensichtlich schon einige Jahre auf dem Buckel hatte. So ähnlich hatte sie sie in Erinnerung, als ob die Zeit stehen geblieben wäre.
»Lass die anderen ruhig erst einmal alle vorbei. Mich regen die Kichererbsen sowieso auf«, bemerkte Doro.
Sie spielte damit auf eine Gruppe in der Tat kichernde Japaner an, die sich gerade an ihnen vorbeizwängten. Ihre Schwester bestimmte, was zu tun war, wie immer. In diesem Fall war es aber eine weise Entscheidung, um nicht ständig vorwärts geschoben zu werden oder jemandem vor den Füßen herumzulaufen.
»Wenn man bedenkt, dass hier früher so gut wie gar nichts los war«, überlegte Elli laut, als sie für einen Augenblick stehen blieb, sich an die Hafenmauer lehnte und zur felsigen Küste hinübersah, die den Ort regelrecht einkesselte.
»Du übertreibst. Die Fähren waren eben kleiner.«
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