Ellin
Regens auf dem Riedgrasdach.
Ellin zog das Schlaffell bis über die Nase und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit, die unablässig von zuckendem Licht erhellt wurde. Wasser tropfte durch die Decke und platschte auf den gestampften Boden. Ein besonders heller Blitz, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag ließ sie zusammenzucken. Die Erde vibrierte. Der Pflug und die Werkzeuge an der Wand klirrten. Angstvoll krallte sie sich in das Schlaffell, überzeugt davon, dass sich jeden Moment der Boden unter ihr auftun und sie verschlingen würde. Seit ihrer Kindheit, als ein mächtiger Blitz in das Gerstknollenfeld neben der Scheune eingeschlagen war und eine Feuersbrunst entfesselt hatte, dem die gesamte Ernte und ein Großteil der Tiere zum Opfer gefallen waren, fürchtete sie Gewitterstürme.
Aus dem Augenwinkel gewahrte sie eine Bewegung. Jemand kroch heran und legte sich neben sie. Sie lugte unter der Decke hervor und sah, wie Kylian seine Felle ausbreitete.
»Was tust du hier?«, fragte sie überrascht.
Seit dem Verlust seiner Zeichnung hatte er nicht mir ihr gesprochen, sie nicht einmal angesehen.
»Ich weiß, dass du Angst hast«, wisperte er.
»Das ist nicht wahr«, entgegnete sie trotzig.
Seine Hand tastete unter ihre Decke und legte sich auf ihren Arm. Blitze erhellten sein Gesicht. »Doch, es ist wahr, du hast es mir erzählt, erinnerst du dich nicht?«
Der nächste Blitz zerriss den Himmel gefolgt von einem mächtigen Donnerschlag.
Sie fuhr zusammen, drückte sich unwillkürlich näher an ihn heran. Wie von selbst schlangen sich ihre Arme um seinen Leib. Für den Moment war es ihr egal, dass er nicht mit ihr gesprochen hatte. Er war da, um sie zu trösten und das war genau das, was sie jetzt brauchte. Sie hörte, wie er den Atem anhielt und in der Bewegung verharrte, nur das schnelle Klopfen seines Herzens zeigte ihr, dass er genauso aufgeregt war wie sie. Es musste ihn einiges an Kraft und Überwindung gekostet haben, seine Dunkelheit abzustreifen, nur um ihr beizustehen.
Zaghaft fuhr seine Hand über ihren nackten Arm. Eine unverfängliche und tröstende Geste, und doch verursachte sie ihr eine Gänsehaut, die sich von den Füßen bis unter die Kopfhaut zog. Sie seufzte leise, spürte, wie sie sich entspannte. Der Gewittersturm rückte in weite Ferne. Vorsichtig schob sie eine Hand unter sein Hemd und berührte die Haut, dort wo einst die feinen Linien gewesen waren. Er ließ es geschehen und so wagte sie sich weiter hinauf, folgte dem imaginären Verlauf der verlorenen Zeichen bis zu den Schulterblättern und dem Nacken, wo sie nach dem wulstigen Brandzeichen tastete. Plötzlich atmete er ruckartig und erbebte. Sie nahm an, dass er wegen ihrer Berührung zitterte, bis sie merkte, dass er weinte. Immer wieder verkrampfte sich seine Brust. Feuchtigkeit tropfte auf ihr Haar. Sie hielt ihn fest und tat, als würde sie seine Tränen nicht bemerken, und doch liebte sie ihn in diesem Augenblick mehr als je zuvor. Tief sog sie den Duft seiner Haut ein, sperrte die Donnerschläge aus und lauschte stattdessen seinem Herzschlag. Keuchend vergrub er die Hände in ihrem Haar. Die Erde erbebte unter der entfesselten Kraft des Gewittersturms so wie ihr Körper, der sich in einem eigentümlichen Zustand zwischen Angst, Trauer und Verlangen befand.
Geschluchzte Entschuldigungen, tränenreiche Küsse, zaghafte Berührungen vermischten sich mit dem berstenden Himmel, bis ihre Verzweiflung in tausend Teile zersprang und die Welt um sie herum verstummte. Erschöpft sank Ellin in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
30
A ls sie nach Kismahelia zurückkehrten und Fortas von Nosaras Vorhaben berichteten, war er zuerst schockiert, später wütend und am folgenden Tag wild entschlossen, sich an seiner Schwester zu rächen. Obwohl kein Freund von kriegerischen Handlungen, gab er den Befehl, die Soldaten, die sich über ganz Kismahelia und noch weit darüber hinaus verteilt hatten, herbeizurufen und auf eine Schlacht vorzubereiten. Anschließend zog er sich mit seinen Beratern zurück und plante den Feldzug. Auf Belas Rat hin entsendete der Herrscher Boten in das benachbarte Thal, um das Regentenpaar um Unterstützung zu bitten. Viele Sternenläufe lang lebten Kismahelia und Thal nun schon in so etwas wie freundschaftlicher Symbiose. Der Herr und die Herrin von Thal und ihr Volk mochten auf den ersten Blick unzivilisiert wirken, hausten sie doch in einfachen Hütten, Zelten und Höhlen, bemalten ihre
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