Ellin
sie erwachte, lag das Mädchen noch immer mit geschlossenen Augen neben ihr. Ächzend setzte Ellin sich auf, griff nach einem Blatt über ihr und ließ den Morgentau in ihren Mund laufen. »Gehen wir jetzt weiter?«, fragte das Mädchen erwartungsvoll.
Ellin nickte, streckte sich und machte sich an den Abstieg. Das Mädchen folgte ihr. Ein paar Doppelschritte entfernt lag der Kadaver der Kreatur am Boden. Ihre Kehle war zerfetzt, die kahlen Beine mehrfach gebrochen. In einem unnatürlichen Winkel standen sie vom Körper ab. Doch am schlimmsten war der Anblick des aufgerissenen Bauches, aus dem die toten Jungen quollen, die winzigen Mäuler im Todeskampf geöffnet, die Köpfe verdreht. Mit blinden Augen starrten sie ins Leere. Über allem lag der durchdringende Geruch nach Blut und Verwesung. Übelkeit stieg in Ellin empor.
Beifallheischend sah das Mädchen sie an. »Das habe ich für dich getan.«
Ellin zwang sich zu einem Lächeln. »Danke. Geh du voran.«
Leichtfüßig stieg das Mädchen über den Kadaver hinweg, klatschte dabei in die Hände vor Freude. Ellin wandte ihr Gesicht ab, während sie die toten Leiber umrundete.
Sie musste das Mädchen töten. Sofort. Wenn sie es jetzt nicht schaffte, würde sie es niemals schaffen. Lautlos zog sie den Dolch aus dem Gürtel und schlich näher. Ihre Hände zitterten. Krampfhaft umklammerte sie den Griff. Jetzt bloß nicht zögern.
Das Mädchen summte eine vertraute Melodie. Ellin hob den Dolch.
»Weißt du was?«, sagte das Mädchen. »Ich habe noch gar keinen Namen. Möchtest du mir einen Namen geben?« Sie drehte sich um. Ihre Augen blitzten vergnügt und sie lächelte. Ellin stieß die Klinge in ihre Brust. Das Lächeln des Mädchens erstarb. Ein Ausdruck abgrundtiefer Bestürzung verdunkelte ihre Augen.
»Es tut mir leid«, schluchzte Ellin. »Es tut mir so unendlich leid. Ich musste es tun.«
»Warum?«, hauchte das Mädchen. »Du bist doch meine Freundin.«
»Deine Existenz ist an meinen Willen gebunden«, sagte Ellin mit tränenerstickter Stimme. »Und so wie du durch meinen Willen entstanden bist, wirst du auch durch meinen Willen vergehen.«
»Aber warum? Wir sind doch Freundinnen«, wisperte das Mädchen, ihre Stimme nur noch ein zarter Hauch. Ellin schluchzte.
Diese blauen Augen, ihre Augen, voll Entsetzen und Schmerz.
»Ich will bei dir sein«, flehte das Mädchen. Ganz und gar menschliches Blut quoll aus der Wunde und tränkte das Kleid. Ihre Beine knickten ein. Langsam sackte sie zu Boden. Ellin kniete sich an ihre Seite, nahm ihre Hand und weinte, bis das Mädchen sich aufzulösen begann und verging.
Eine schreckliche Kälte kroch durch ihre Eingeweide, als die bleiche Gestalt immer durchscheinender wurde und schließlich verschwand. Sie krümmte sich und hielt ihren Bauch, der sich anfühlte wie ein gefrorener Stein. Unmenschliche Laute drangen aus ihrem Mund, eine Mischung aus Klagen, Heulen und Schreien.
Es dauerte lange, bis sie ihrer Verzweiflung Herr wurde und endlich in der Lage war, aufzustehen und ihren Weg fortzusetzen. Ein kaltes, schwarzes Loch schien sich in ihrer Brust aufzutun, gleich unterhalb des Herzens. Eine Stelle, die sich anfühlte, als hätte man ihr einen Teil ihrer Lebenskraft geraubt, ihn gewaltsam herausgerissen, wie ein ungeborenes Kind. Während sie die Ausläufer des Waldes passierte, war sie sich sicher, dass sie niemals wieder dieselbe sein würde.
37
L ord Wolfhard starb. Niemand wusste, wie er verwundet worden war und wie es der Leibdienerin gelungen war, zu fliehen. Man fand ihn am Boden liegend. Das Einzige, was er sagte, war: Lundkraut, Bergspitzrinde, schnell , bevor er das Bewusstsein verlor.
Heiler Mathýs eilte herbei und machte sich sofort daran, die Heilkräuter zu besorgen, doch als er sie verabreichen wollte, war Lord Wolfhard weder in der Lage zu schlucken noch zu sprechen. Der Heiler untersuchte ihn aufs Gründlichste, fand jedoch nur zwei Bisse, bei denen es sich unmöglich um die Bisse eines Erwachsenen handeln konnte. Die Abdrücke seien die eines Kindes, höchstens zehn oder elf Sternenläufe alt, erklärte er jedem, der es hören wollte. Fassungslosigkeit breitete sich aus wie eine ansteckende Krankheit. Niemand konnte sich einen Reim auf Lord Wolfhards seltsame Schwäche und die Bissspuren machen, und so schickte man Soldaten aus, um die Leibdienerin Ellin zu finden. Nur sie konnte Auskunft über die Geschehnisse geben. Doch die Männer kehrten unverrichteter Dinge wieder zurück. Lord
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