Ellin
Wolfhard starb zwei Tage nach der Verwundung und alle, die ihn pflegten oder aus anderen Gründen an seinem Totenbett weilten, waren entsetzt über die Qualen, die er erleiden musste und das, obwohl Heiler Mathýs es doch noch geschafft hatte, ihm Lundkraut und Bergspitzrinde zu verabreichen.
Die folgende Totenfeier war eines Regenten würdig. Die besten Speisen wurden aufgetragen und große Fässer vergorener Schwarzbeersaft und Gerstschnaps wurden angeschlagen und jedem, sogar dem Gesinde zugänglich gemacht. Die Menschen auf der Festung trauerten in vecktanischer Weise. Sie fraßen wie ein ausgewachsenes Bisott und betranken sich bis zur Besinnungslosigkeit. Obwohl es niemand laut sagte, so war es doch ein offenes Geheimnis, dass niemand, außer vielleicht Skavos, um Lord Wolfhard trauerte. Die wichtigste Frage, die sich den Vecktanern nun stellte, war, wer Lord Wolfhards Nachfolge antreten würde. Jeder, der glaubte, mit ihm verwandt zu sein, kam zur Festung und behauptete sein Recht, doch auch verschiedene Adelige betonten ihren herrschaftlichen Stand und damit ihren Anspruch auf die Regentschaft. Die Festung füllte sich mit Menschen, selbst im Innenhof und vor den Festungsmauern wurden Zelte errichtet. Affra hatte alle Hände voll zu tun die hungrigen Mäuler zu stopfen, vor allem da sich die Vorräte langsam aber sicher dem Ende neigten. Sobald die achttägige Trauerzeit vorüber war, würden die Lords der fünf vecktanischen Provinzen einen Nachfolger wählen. Noch immer fragte Affra sich, wie es Ellin gelungen sein mochte, Lord Wolfhard zu töten, denn auch wenn ihr Mathýs versichert hatte, dass die Bisse nicht von Ellin stammten, war sie sicher, dass sie etwas damit zu tun haben musste.
Mehrmals täglich ging Affra zum Tor und befragte die Wachposten zu den Neuankömmlingen, doch Ellins Gefährte entdeckte sie nicht. Auch an diesem Morgen machte sie sich auf den Weg, wühlte sich durch die immer größer werdende Menge. Das Tor stand offen. Unzählige Besucher begehrten Einlass. Den meisten wurde der Zutritt mittlerweile verwehrt, nur hohe Herren ließ der oberste Heerführer hinein. Affra fiel ein Mann auf, der mit verschränkten Armen vor Skavos stand und ihn herablassend musterte, während dieser wild gestikulierend auf ihn einredete. Er hatte langes, schwarzes Haar, eine gekrümmte Nase, schmale Lippen und eine Narbe über dem linken Auge. Sein Waffengurt war reich bestückt. Trotz der verschlissenen Kleidung wirkte er stolz und erhaben wie ein Edelmann. Affras Herzschlag beschleunigte sich. Dieser Mann entsprach genau Ellins Beschreibung. Kurzentschlossen trat sie neben die beiden Männer. »Seid gegrüßt, Skavos.«
Skavos unterbrach seine Rede und sah sie an. »Was wollt Ihr?«
»Wie jeden Morgen werfe ich einen Blick hinaus, in der Hoffnung, dass Ellin in die Festung zurückkehrt und erklärt, was Lord Wolfhard das Leben gekostet hat.«
Bei der Erwähnung von Ellins Namen zuckte der Fremde kaum merklich zusammen und musterte sie dann aufmerksam.
Skavos schnaubte. »Pah, diese Mörderin wird sicher nicht zurückkehren. Wie könnt Ihr so dumm sein, darauf zu hoffen?«
»Heiler Mathýs beteuert ihre Unschuld, warum also nicht? Besser, als alleine durch die Wildnis zu irren.« Affra warf Kylian einen bedeutungsvollen Blick zu, den dieser schweigend erwiderte. »Jemand sollte sie finden, bevor sie einem Untier oder Schlimmerem in die Hände fällt.«
Kylian hob die Augenbrauen und nickte fast unmerklich. Er hatte verstanden. Affra zwinkerte ihm zu. Er lächelte, was sein strenges Gesicht um ein Vielfaches freundlicher erscheinen ließ.
»Kennt Ihr diesen Mann?«, fragte Skavos von einem zum anderen blickend.
Affra machte eine unschuldige Miene. »Nein, wie kommt Ihr darauf?«
Misstrauisch runzelte Skavos die Stirn. »Wie auch immer.« Er wandte sich wieder Kylian zu. »Um es kurz zu machen: Söldnerdienste sind hier nicht vonnöten.«
Kylian verneigte sich kurz. »Das tut mir leid. Ich wünsche Euch, was immer Ihr Euch wünscht.« Er warf Affra einen letzten Blick zu, stieg auf sein Pferd und verließ die Festung. Affra blickte ihm nach und verspürte den aberwitzigen Drang, ihm zu folgen. Ihr ganzes Leben lang war die Felsenfestung ihr Zuhause gewesen, doch urplötzlich erwachte in ihr der Wunsch, diese kleine Welt hinter sich zu lassen. Sie ahnte, wohin Ellins Weg sie führen würde und zum ersten Mal fragte sie sich ernsthaft, ob sie ihr folgen sollte. Vor Skavos konnte sie dem Fremden
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