Ellin
Augen sah das Mädchen sich um. »Vielleicht ist er ja versteckt.«
Ellin runzelte die Stirn. Das war gar nicht so abwegig. Sie erhob sich und begann erneut, die Wände abzusuchen. Akribisch untersuchte sie jeden Zoll nach einem verborgenen Mechanismus oder einer unsichtbaren Tür. Das Mädchen setzte sich auf den Boden und summte leise vor sich hin. Nachdem sie die Hälfte der Höhle abgesucht hatte, stellte sie besorgt fest, dass die Fackel fast heruntergebrannt war. Ohne Licht waren sie verloren. Sicher waren Lord Wolfhards Häscher schon auf dem Weg, um sie zurückzuholen. Wütend trat sie gegen den Stein, auf dem sie gesessen hatte. Er bewegte sich nicht, doch der Tritt schmerzte. Sie betrachtete den Brocken und fragte sich plötzlich, wie er wohl in eine Höhle gelangen konnte, die so rund und glatt wie ein Flusskiesel war.
»Hilf mir mal«, sagte sie und griff nach dem Stein.
Das Mädchen eilte herbei. Gemeinsam schoben sie den Fels zur Seite und legten eine Öffnung von einem Schritt Breite frei.
»Der Ausgang«, stellte Ellin erleichtert fest.
Das Mädchen kicherte. Die Öffnung war eng, Erde bröselte von den Wänden, als Ellin in den Tunnel kroch. Sie atmete tief durch und versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Die Enge im Berg war gerade noch erträglich gewesen, doch in diesem feuchten Loch fühlte sie sich wie in einem Grab. So schnell sie konnte robbte sie vorwärts, nur ihr keuchender Atem verriet ihre Angst. Kurz darauf spürte sie einen Lufthauch. Über sich konnte sie die Schlitze einer Falltür erkennen, die vom fahlen Licht der aufgehenden Sonnen erhellt wurden. Hastig drückte sie die Falltür nach oben und stemmte sich in den kühlen Morgen hinaus. Das Rauschen der Bäume begrüßte sie. Der Wind wehte den Geruch von feuchter Erde und Moos herbei. Neugierig blickte Ellin sich um. Sie befand sich am Fuße des Hammerfelsens, nur wenige Doppelschritte vom Wald entfernt.
Sie überlegte, ob sie gleich in den Wald hineingehen oder sich lieber zum nördlichen Abstieg begeben sollte. Da sie jedoch nicht genau wusste, wie weit dieser entfernt war und auch nicht Gefahr laufen wollte, Lord Wolfhards Häschern in die Arme zu laufen, beschloss sie, in den Wald zu gehen. Das Mädchen würde sie schützen. Zudem musste sie so schnell wie möglich einen sicheren Schlafplatz finden, denn sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.
»Hör zu«, sagte sie. »Wir gehen in den Wald. Dort leben gefährliche Kreaturen. Sollten wir einer begegnen, musst du sie töten, bevor sie uns tötet. Verstehst du das?«
Das Mädchen nickte. »Wenn du das wünschst. Das wird sicher Spaß machen.«
Ellin rang sich ein Lächeln ab und stapfte auf den Wald zu. Mit letzter Kraft stieg sie auf den erstbesten Baum und legte sich auf einen breiten Ast. Das Mädchen ergriff ihre Hand.
»Danke«, sagte es.
»Wofür?«, murmelte Ellin, schon halb im Schlaf gefangen.
»Dafür, dass du mir das Leben geschenkt hast.«
Obwohl der Wald im Vergleich zur Felsenfestung windgeschützt und warm war, erwachte sie frierend. Das Mädchen strahlte keine Wärme ab, im Gegenteil, es schien sich von Ellins Wärme zu nähren. In der Ferne hörte sie Stimmen und das Wiehern von Pferden, doch die Laute entfernten sich rasch. Ellin fragte sich, ob Lord Wolfhard noch lebte oder ob er bereits im Sterben lag. Immerhin war er zweimal gebissen worden, einmal davon direkt in den Hals. Sie hielt es für sehr wahrscheinlich, dass dies seinen Tod beschleunigte.
Das aufdringliche Knurren ihres Magens und ihre zittrigen Knie erinnerte sie daran, dass sie seit geraumer Zeit nichts mehr gegessen hatte und so hielt sie nach Kräutern und Nüssen Ausschau. Gierig stopfte sie eine Handvoll Mooskopfpilze in sich hinein. Das Mädchen beobachtete sie neugierig.
»Hast du Hunger?«, fragte Ellin.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich finde es lustig, wie du deinen Mund bewegst.« Sie schlug die Zähne aufeinander und tat, als würde sie kauen. Unwillkürlich musste Ellin lachen. Das Mädchen fiel in ihr Lachen mit ein.
Anschließend stillte sie ihren Durst an Blättern, auf denen sich der Morgentau gesammelt hatte. Das Mädchen beobachtete ihr Tun, bevor sie ebenfalls ein Blatt zur Hand nahm und sich das Wasser übers Kinn laufen ließ.
In der Nacht lagen sie nebeneinander. Verstohlen betrachtete Ellin das Antlitz des Mädchens. Es hatte die Augen geschlossen, doch die Pupillen bewegten sich unter den Lidern. Plötzlich schlug sie die Augen
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