Ellin
Licht, das sie erkennen konnte, was direkt vor ihr lag. Die hageren Bäume standen zwar nicht so dicht beieinander, doch hatten sie lange, dünne Wurzeln, die sich über den Boden schlängelten und zu regelrechten Stolperfallen wurden. Mehrmals blieb sie hängen und stürzte. Sie verfluchte die schlechte Sicht und die tückischen Wurzeln. Am Ende des kleinen Waldes machte sie Halt. Wenn sie auf den Weg hinauslief, bestand die Gefahr, entdeckt zu werden. Zudem war sie erschöpft und sehnte sich nach einer kurzen Rast. Die Bäume würden ihr zumindest ein wenig Schutz gewähren, und falls sich jemand näherte, würde sie es rechtzeitig hören und könnte sich zwischen den Wurzeln verstecken. Sie wickelte sich in ihren Umhang, sank zu Boden und lehnte sich gegen einen Baumstamm. Um das Kratzen in ihrem Hals zu beruhigen, trank sie ein paar Schlucke Kräutersud.
Die ungewohnte Anstrengung hatte ihr sämtliche Kraft geraubt. Obwohl sie gegen den Schlaf ankämpfte, verfiel sie dem machtvollen Drang nach Ruhe und schloss die Augen.
6
E llin ist fort«, erklang Geldis’ Stimme aus dem Wagen.
Jesh schob den Vorhang zur Seite. »Was bedeutet, sie ist fort?«
Geldis steckte den Kopf aus dem Einstieg und warf Kylian derartig zornige Blicke zu, dass dieser unbehaglich zur Seite blickte. »Es bedeutet, sie hat ihr Bündel gepackt und ist geflohen.«
Ächzend kletterte sie vom Wagen und humpelte auf Kylian zu. Mit dem Finger stieß sie in seine Brust und zwang ihn, sie anzusehen. »Das ist allein dein Werk.«
»Glaubst du das wirklich?«, fragte Kylian kalt.
»Oh ja, und ob ich das glaube.«
Kylian warf einen Blick in die Runde seiner Gefährten. Betretene Gesichter, wohin er auch sah. »Ich habe euch gewarnt«, rief er. »Nun wird sie uns verraten.«
»Was soll sie denn schon sagen?«, stieß Butan ungehalten hervor. »Die Kleine weiß nicht, wer oder was wir sind. Ich bezweifle, dass sie es überhaupt bis zum nächsten Dorf schafft. Sie hat keine Ahnung, wie man in der Wildnis überlebt.«
»Und genau aus diesem Grund sollten wir sie zurückholen«, warf Jesh ein.
Kylian trat auf Jesh zu, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte höhnisch auf ihn hinab. »Und dann? Was sollen wir dann mit ihr tun?«
Jesh zuckte mit den Schultern. »Wir nehmen sie mit nach Huanaco, dort kann sie ein neues Leben beginnen.«
Kylian lachte verächtlich. »Hast du den Verstand verloren? Ich schleppe doch nicht ein verdammtes Menschenweib den langen Weg bis nach Huanaco mit.«
Trotz zeigte sich auf Jeshs Gesicht. »Warum nicht? Im Wagen ist ausreichend Platz und sie kann uns bei den täglichen Verrichtungen zur Hand gehen.«
»Der Junge hat recht«, warf Geldis ein. »Sie kann bei mir im Wagen schlafen, Beeren, Kräuter und Holz sammeln und sich um das Reinigen der Kleider und des Kochgeschirrs kümmern. Solange sie bei uns ist, besteht zumindest nicht die Gefahr, dass sie jemandem von uns erzählt.«
Kylian verschränkte die Arme über dem Kopf und stapfte unschlüssig hin und her. Er wollte das Mädchen nicht zurückholen, genauso wenig wollte er die Häscher des hiesigen Lords auf den Fersen haben. Eine Zwickmühle.
»Du musst dich entscheiden«, drängte Nuelia. »Jeden Augenblick, den du mit sinnlosen Überlegungen vergeudest, entfernt sie sich weiter von uns.«
Beherzt trat Geldis ihm in den Weg und stoppte seinen Lauf. »Beweise dem Mädchen, dass die Uthra besser sind als die Menschen. Lass ihr dieselbe Gnade zuteilwerden, die Mabon seinen Kindern zuteilwerden lässt – schenke ihr ein langes Leben.« Ihr Tonfall hatte fast schon etwas Beschwörendes.
Kylian wusste, dass sie ihn an ihre Prophezeiung erinnern wollte, daran, dass dies ihre letzte Reise sein würde, und verwünschte sie innerlich für ihre Beharrlichkeit.
Wütend trat er gegen einen Ast. »Verflucht. Ich werde sie zurückholen. Ihr fahrt voraus. Wenn ich sie gefunden habe, nehme ich sie mit zu den Braunen Seen. Sollte ich euch nicht rechtzeitig einholen, dann wartet am westlichen Mahnstein auf mich.«
Butan hob erstaunt die Augenbrauen. » Du willst sie suchen?«
»Er wird sie wahrscheinlich umbringen«, murmelte Jesh.
Kylian warf ihm einen scharfen Blick zu und setzte zu einer Erwiderung an.
»Lass es«, beschwor Geldis ihn. »Geh und such’ das Mädchen.«
Er zögerte noch einen Moment und kämpfte gegen das Verlangen, Jesh zurechtzuweisen, doch schließlich stapfte er mit finsterer Miene davon. Nachdem er seinen Hengst gesattelt hatte,
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