Ellin
in ihrer Brust wie ein Vogeljunges. Sie wünschte sich, er möge endlich aufhören, sie anzustarren. Warum ging er nicht einfach und ließ sie in Ruhe?
Als hätte er ihre Gedanken gehört, wandte er sich ab und stürmte nach draußen. Keuchend lehnte Ellin sich gegen die Wand und versuchte, ihren Atem und das Zittern in ihren Beinen zu beruhigen.
Nuelia sah sie mitleidig an. »Er war nicht immer so. Doch er hat zuviel gesehen und zuviel erdulden müssen. Das Leben hat ihn bitter gemacht.«
Ellin hustete, ihr Hals brannte. Es war ihr egal, ob er schon immer so gewesen war oder nicht und auch, was er erduldet hatte. Auch sie hatte Dinge gesehen, die kein Mensch und schon gar kein Kind hätte sehen sollen, doch war sie deswegen nicht herzlos und bitter. Er war einfach nur ein Widerling, unberechenbar und aufbrausend. Keinen Augenblick wollte sie länger in seiner Nähe verweilen.
»Kann ich … bitte … alleine sein«, bat sie leise.
»Natürlich. Ruht Euch aus«, sagte Nuelia. »Ich verstehe, dass Ihr verstört seid. Kommt doch morgen früh zu mir auf den Kutschbock und dann reden wir über alles.«
Ellin nickte. Sie wollte nicht reden. Alles, was sie wollte, war, alleine zu sein und nachzudenken. Glücklicherweise respektierte Nuelia diesen Wunsch und verließ den Wagen. Kaum hatte sich der Vorhang am Einstieg geschlossen, sank sie auf die Felle, barg ihr Gesicht in den Händen und weinte. Sie dachte an all die Tränen, die sie seit dem verhängnisvollen Abend in Lord Wolfhards Gemächern vergossen hatte, und wunderte sich, dass Weinen überhaupt noch möglich war. Würden ihre Tränen nicht irgendwann einmal versiegen? Was bliebe dann von ihr? Ein seelenloser Leib, ohne Freude und Schmerz?
Seltsamerweise machte ihr die Tatsache, dass es sich bei ihren Rettern scheinbar nicht um Menschen handelte, weniger aus als Kylians Verachtung. Sein ungerechtfertigter Zorn ängstigte sie und nicht das, was hinter seinem menschlichen Antlitz steckte. Es war nicht abzusehen, wie er sich ihr gegenüber verhalten und ob sich ein Wutanfall dieser Art wiederholen würde. Keinesfalls war sie vor Lord Wolfhards Tyrannei geflohen, nur um von dem nächsten Despoten gedemütigt und misshandelt zu werden.
Dieser Gedanke führte sie zu der Erkenntnis, dass es erneut an der Zeit war, zu fliehen. Zwar war sie noch nicht vollständig genesen, doch durfte sie darauf keine Rücksicht nehmen. Wenn sie erst die Sümpfe erreichten, war es zu spät. Dies war die einzige Gelegenheit. Kurzentschlossen packte sie ihr Bündel zusammen, steckte ein paar Gerstfladen dazu und füllte den Kräutersud in ihren Trinkschlauch. Mit fahrigen Fingern löste sie die Lederbänder an der vom Lager abgewandten Seite und rollte die Wagenbespannung auf. Der Stoff war dick und schwer und ließ sich nur unter Einsatz ihrer ganzen Kraft so weit nach oben rollen, dass sie sich nach draußen schieben konnte. Hinter dem Wagen wartete völlige Finsternis. Das Lagerfeuer warf seinen Schein nur auf die Vorderseite des Wagens. Wenn ihre Retter nicht vermochten, wie Kreaturen der Nacht in der Dunkelheit zu sehen, würden sie Ellins Verschwinden unmöglich bemerken. Selbst ein leises Rascheln würden sie nur für ein neugieriges Tier halten.
Zuerst schob sie das Bündel durch die schmale Öffnung. Mit einem dumpfen Laut schlug es auf dem Boden auf. Angespannt lauschte sie, ob jemand sich näherte, doch bis auf das entfernte Murmeln blieb alles ruhig. Nun quetschte sie ihren Körper hindurch. Etwas unsanft landete sie im kühlen Gras und verspürte sofort den wohlbekannten Hustenreiz. Hastig rappelte sie sich auf, schwang sich das Bündel auf den Rücken und presste die Hand auf den Mund, um den Hustenreiz zu unterdrücken. So schnell es ihr geschwächter Zustand zuließ, hechtete sie über die Lichtung, die wesentlich breiter war, als sie angenommen hatte. Schon stahl sich ein unterdrücktes Hüsteln aus ihrem Mund. Ein kurzer Blick zurück zeigte ihr, dass sie sich ein gutes Stück vom Lager entfernt hatte. Sie erlaubte sich, noch einmal so leise wie möglich zu husten, während sie weiter auf den Wald zustrebte, der bei näherer Betrachtung eher einer zufälligen Ansammlung von Bäumen glich als einem richtigen Wald. Dort angekommen machte sie Halt, stützte sich auf den Knien ab und rang keuchend nach Luft. Ihre Lungen brannten. Nachdem sich ihr Atem ein wenig beruhigt hatte, lief sie in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Der Nordstern spendete gerade so viel
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