Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ellin

Ellin

Titel: Ellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Millman
Vom Netzwerk:
hatte, darauf zu gehen. Sie war sich nie ganz sicher gewesen, ob es sich bei diesen Geschichten nur um Schauermärchen handelte oder ob sie der Wahrheit entsprachen. Zumindest hatten sie bewirkt, dass sie überall hinwollte, aber keinesfalls zu den Braunen Seen.
    Geldis kehrte erst am Abend in das Lager zurück. Ihre Haut war fahl und sie wirkte erschöpft. Schwer auf ihren Stock gestützt humpelte sie zum Feuer. Jeder Schritt schien eine Qual zu sein. Ellin blickte ihr entgegen, und wie bei Lord Wolfhard zuvor, konnte sie für einen Augenblick eine sichtbare Aura wahrnehmen. Nur dass Geldis’ Aura keinem Schatten glich, sondern aus trübem Licht zu bestehen schien, wie die Flamme einer heruntergebrannten Kerze oder die Morgendämmerung während des Langen Regens. Ellin biss sich auf die Unterlippe. Derartige Erscheinungen hatte sie während der letzten beiden Sternenläufe öfters gehabt, doch erst bei Lord Wolfhard waren sie zusätzlich mit dem Erkennen des Charakters und der Lebenskraft verknüpft. Sie eilte zu Geldis und bot ihre Hilfe an, doch die alte Frau wies sie barsch zurück. Ächzend setzte sie sich an das Lagerfeuer und ignorierte die fragenden Blicke der anderen. Ellin reichte ihr eine Schale gedünstete Rüben mit Grünlingen und einen Waldhuhnschenkel, den sie vom Abendmahl übriggelassen hatten.
    Die alte Frau nahm ihn schweigend entgegen und begann zu essen, ihr Haupt tief über die Schale gebeugt, während die anderen einander bedeutungsvolle Blicke zuwarfen. Schließlich stellte sie die geleerte Schale zur Seite und seufzte. Sofort starrten alle sie an und warteten.
    »Meine Vision zeigte mir eine kleine Insel inmitten der Braunen Seen. Dort werdet ihr sie finden.«
    »Eine Insel?«, fragte Butan. »Die ist mir völlig unbekannt.«
    »Kaum jemand dringt je tief genug vor, um sie zu finden«, erwiderte Geldis. »Doch sei versichert, sie ist da.«
    Ellin betrachtete die alte Frau erstaunt. War sie etwa eine Seherin? Im Gerstfeldtal hatte es keine Seherin gegeben, doch auf der Felsenfestung lebte eine Frau, Inga, die manchmal Visionen hatte und Geschehnisse voraussagte, die später tatsächlich eintrafen. Soweit Ellin wusste, konnte Inga die Visionen nicht bewusst heraufbeschwören. War Geldis dazu in der Lage?
    »Seid Ihr eine Seherin?«, fragte sie.
    Geldis nickte.
    »Und Ihr könnt die Visionen willkürlich erzeugen?«
    Wieder nickte die alte Frau. »Ja. Ich habe die Gabe von meiner Mutter geerbt. Sie war es auch, die mich gelehrt hat, sie zu nutzen.«
    »Wie außergewöhnlich! Wen sucht ihr denn?«
    Zuerst schien es, als würde ihr niemand antworten, doch dann beugte Jesh sich vor und sagte »Abtrünnige.«
    Ellins Neugier war geweckt. »Was sind das für Abtrünnige? Was haben sie getan? Sollt Ihr sie zu ihrem Herrn zurückbringen?«
    Jesh setzte zu einer Erwiderung an, doch Kylian brachte ihn mit einem scharfen Blick zum Schweigen.
    »Wieder einmal fragt Ihr zu viel«, zischte er sie an. »Unser Auftrag geht Euch nichts an. Geht in den Wagen. Wir haben noch Dinge zu besprechen, die nicht für Eure Ohren bestimmt sind.«
    Wütend starrte Ellin ihn an. Niemand widersprach ihm und so schluckte sie zum zweiten Mal an diesem Tag die Erwiderung, erhob sich und eilte zum Wagen. Ihre Wangen glühten. Nicht nur, dass er sie wie ein dummes Kind behandelte, auch zeigte er überdeutlich, wie sehr ihn ihre Anwesenheit störte. Frustriert ließ sie sich auf die Felle plumpsen, umschlang ihre Knie und starrte vor sich hin. Vielleicht sollte sie die Gruppe verlassen, auch auf die Gefahr hin, sich in der Wildnis zu verirren oder erneut zu erkranken. Sie war unerwünscht und eigentlich wollte sie auch gar nicht hier sein. Diese Leute waren ihr unheimlich.
    Gedämpfte Stimmen drangen von draußen herein. Unwillkürlich fragte Ellin sich, was sie wohl so außerordentlich Geheimes zu besprechen hatten. Eine Weile lauschte sie dem Gemurmel, hin und hergerissen zwischen Neugier und Wut, bis sie es nicht mehr aushielt. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Einstieg, öffnete den Vorhang einen Spaltbreit und spitzte die Ohren.
    »… war unnötig!« Jesh hatte gesprochen.
    »Du bist ein Narr«, herrschte Kylian ihn an. »Verstehst du denn nicht, dass sie eine Gefahr für uns ist?«
    »Wie kann sie eine Gefahr sein? Sie erscheint mir aufrichtig und ohne Tücke. Wir sollten es ihr sagen.«
    »Sie würde uns verraten, wie alle Menschen, die unsere wahre Natur erkennen. Lass dich nicht von ihrem hübschen Lächeln und den

Weitere Kostenlose Bücher