Ellin
betrachtete die wachen, mandelförmigen Augen. Der Hengst schnaubte leise und Ellin streichelte zwischen den Nüstern hinauf zur Stirn. Ihr Blick fiel auf die Ohren, welche ungewöhnlich groß und mit vielen kleinen Rillen versehen waren, wie die Ohrmuschel eines Flughundes. Mähne und Schweif waren weich wie Menschenhaar und von dunklerem Silbergrau als das Fell. Es war tatsächlich ein außergewöhnliches Tier, und obwohl Ellin noch nie ein Grej Perlino gesehen hatte, zweifelte sie nicht an seiner Abstammung. Neben dem Pferd lagen das Sattelzeug sowie ihr Bündel, welches sie vor ihrer Gefangennahme hatte fallenlassen.
»Ihr habt mein Bündel gefunden?«, fragte sie erfreut.
Kylian nickte stumm.
Ellin öffnete es und prüfte den Inhalt. Nichts fehlte, sogar der Gerstfladenklumpen war noch vorhanden. Vorsichtig nahm sie ihn heraus und verfütterte ihn an Jalo.
Anschließend erkundete sie die nähere Umgebung und entdeckte, sehr zu ihrer Freude, ein kleines Rinnsal hinter den Büschen. Nachdem sie vier Eier aus einem Vogelnest geklaubt hatte, überwand sie sich und bat Kylian darum, ihr einen Weg durch das Gestrüpp zu schlagen. Während er mit seinem Schwert eine schmale Schneise schuf, konzentrierte sie sich in sicherem Abstand auf seine Aura. Sie wirkte nicht gefährlich, hatte keinen finsteren Kern. Doch er hatte sie gewürgt, was bedeutete, dass etwas Dunkles in ihm war, auch wenn sie es im Augenblick nicht sehen konnte. Seufzend zog sie frische Kleidung aus ihrem Bündel, ging zum Bach und wusch sich. Als sie fertig war, begann sie, ihre Tunika zu reinigen. Lauter als nötig kam Kylian durch die Büsche getrampelt, hockte sich ein paar Doppelschritte entfernt ans Wasser und entkleidete sich. Obwohl er darauf achtete, seinen Körper vor ihren Blicken zu verbergen, errötete sie. Es behagte ihr nicht, ihn unbekleidet zu wissen. Nervös spähte sie zu ihm hinüber. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt und einen Umhang um seine Schultern geschlungen. Sein für einen Mann ungewöhnlich schamhaftes Verhalten irritierte sie. Er verbarg etwas vor ihr. Sei nicht so neugierig, schalt sie sich in Gedanken. Wenn sie ihn bloßstellte, würde er nur wieder zornig werden, vielleicht sogar die Beherrschung verlieren. Zu was er dann fähig war, hatte er bereits bewiesen. Dennoch konnte sie nicht widerstehen, ihm immer wieder verstohlene Blicke zuzuwerfen. Und dann geschah es. Für einen kurzen Augenblick rutschte der Umhang von seinen Schultern. Sein Kopf ruckte zu ihr herum, doch sie hatte sich bereits wieder über ihre Tunika gebeugt und rubbelte an einem imaginären Fleck herum. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er misstrauisch die Stirn runzelte und dann eilig seine Waschung beendete.
Ellin blieb allein am Wasserlauf zurück. Sie hatte die Zeichen auf seinem Rücken gesehen, die weder willkürlich noch durch äußere Einwirkung verursacht worden waren, sondern Teil seiner Haut zu sein schienen. Was waren das für Zeichen? Was bedeuteten sie? Wer war Kylian wirklich? Sie stöberte in ihren Erinnerungen und reihte im Geiste die ihr bekannten Völker auf. Doch weder war er ein Mossa, die in den Steppen lebten und für ihren kleinen Wuchs bekannt waren, noch einer der Küstenmenschen, die von dunkler Hautfarbe waren. Die Männer von Thal dagegen waren zwar berüchtigt für ihre Kriegskunst sowie für ihre ungewöhnliche Leibesbemalung, doch die Zeichen auf Kylians Rücken waren keine Bemalung. Ihre Gedanken wanderten zu den übernatürlichen Wesen, die Truden, die Thyiaden, die Afrit und die Uthra. Stirnrunzelnd dachte an alles, was ihr Vater ihr über menschenähnliche Wesen erzählt hatte. Die Thyiaden und die Truden schieden aus, auch die Afrit passten nicht, doch was wusste sie über die Uthra? Allgemein galten sie als herausragende Kämpfer, die die Seelen ihrer Opfer als Zeichen ihrer Überlegenheit an sich banden, und auf diesem Weg ein unnatürlich langes Leben erlangten. Ihre Körper waren vom Herrscher des Lichts gezeichnet, der sie so als seine Kinder offenbarte.
Das musste es sein. Plötzlich war sie sich ganz sicher, einen der letzten Uthra vor sich zu haben. Im Gegensatz zu anderen Menschen hatte ihr Vater nie schlecht über fremde Wesen gesprochen, weder über Göttliche noch über Dämonische, auch nicht über die Uthra. Die Götter halten alles im Gleichgewicht , pflegte er zu sagen. Das Gute, wie das Böse, das Schöne und das Hässliche, Glück und Leid und auch Geburt und Tod. Alles hat seinen Platz und
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