Ellin
eine schlammige Pfütze. Die junge Frau starrte auf den Kopf ihres Geliebten, blankes Entsetzen im Gesicht. Dann begann sie, zu schreien. Die Menge applaudierte und lachte, ergötzte sich an ihrem Leid. Ellin spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Vor Abscheu hatte sie sogar vergessen, zu essen. Sie wollte sich das nicht länger ansehen. Entschlossen erhob sie sich und wandte sich zum Gehen. »Ich gehe in den Palast zurück.«
Nuelia sah zu ihr auf. »Wirklich? Es ist doch eine recht unblutige Hinrichtung. Da habe ich schon ganz andere gesehen. Manche werden gevierteilt, zu Tode geschleift oder bei lebendigem Leibe ausgeweidet.«
»Trotzdem ist es scheußlich«, erwiderte Ellin. »Aber ihr könnt gerne hier bleiben, ich finde den Weg zurück auch alleine.«
Jesh bot gar nicht erst an, sie zu begleiten, worüber sie froh war. Sie wollte allein sein. Vorsichtig schlängelte sie sich zwischen den Bänken hindurch zum Ausgang. Dann wanderte sie, an ihrem mittlerweile erkalteten Spieß nagend, durch die Straßen.
Würde dieser Ort wirklich ihr neues Zuhause werden? Auf den ersten Blick schienen die Menschen zivilisierter und redlicher zu sein als die Vecktaner. Bei genauerem Hinsehen fanden sich jedoch Grausamkeiten, die ebenso verabscheuungswürdig waren, vielleicht noch verabscheuungswürdiger, denn sie fanden unter der Herrschaft einer gerechten und weisen Herrscherin statt. Hinrichtungen, die als öffentliche Unterhaltung zelebriert wurden, Sklavenhaltung und nicht zuletzt die kaltblütige Verstümmelung von Bediensteten, nur damit sie still und diskret blieben − war das etwa nicht barbarisch? Und womit würde sie ihren Lebensunterhalt verdienen? Ohne die Uthra war sie hilflos und allein, vollständig den Launen ihres Dienstherrn ausgeliefert. Es wäre soviel einfacher, würde sie Jeshs Gefährtin werden und ihm gestatten, für sie zu sorgen. Doch weder konnte sie ihre Gefühle für Kylian verleugnen, nun, nachdem sie sich diese endlich eingestanden hatte, noch könnte sie es ertragen, mit den Uthra umherzuziehen und ihn immer in ihrer Nähe zu haben. Nah, doch unerreichbar.
Entgegen ihrer Beteuerungen verlief sie sich in dem Gewirr aus Gassen und gelangte in den Teil Huanacos, in dem die ärmeren Bürger lebten. Zwischen kleinen, aus einem Zimmer mit Hof bestehenden Häusern, standen Zelte, die nur aus vier Pfosten und einem Stoffüberwurf gefertigt waren. Von den Pfosten baumelten Kleiderbündel, Kochgeschirr, getrocknete Kräuter und Netze mit Brot und Fleisch herab. In der Mitte befand sich eine mit Steinen umsäumte Feuerstelle und am Boden lagen Felle ausgebreitet. Die Kleidung der Menschen war alt und fleckig und an vielen Stellen geflickt. Die Kinder hatten nur ein Stück Stoff um die Hüfte geschlungen und liefen ausnahmslos barfuß umher. Trotz dieser bescheidenen Verhältnisse schienen die Menschen fröhlich. Hier war nichts von dem Schmutz und der Hoffnungslosigkeit zu sehen, die vecktanische Armenviertel kennzeichnete. Die Kinder musterten sie neugierig. Ein altes, zahnloses Weib hielt ihr eine grob geschnitzte Figur entgegen. »Chwei Prachich«, nuschelte sie.
»Tut mir leid, ich habe keine Prasis«, erwiderte Ellin. Die Frau schnaubte abfällig. Sie glaubte ihr nicht.
Ellin hastete weiter. Am Ende des Weges beschattete sie ihre Augen und blickte in die Ferne, in der Hoffnung, den Herrscherhügel zu erspähen, doch sie sah nur Häuser, Wald und Pflanzungen. Wie weit hatte sie sich vom Palast entfernt?
»Sucht ihr etwas?«, fragte eine Stimme hinter ihr.
Ellin fuhr herum und erblickte eine zierliche, junge Frau mit kahl rasiertem Schädel. Ihr exotisches Gesicht mit den dunklen, mandelförmigen Augen, den perfekt geschwungenen Lippen und der zierlichen Nase wirkte makellos, wie das Gesicht einer Puppe. Ihrem Aussehen nach zu urteilen, stammte sie weder aus Huanaco noch aus Veckta oder einem anderen ihr bekannten Land. Um den Hals trug sie ein rotes Band, welches das Brandmal in ihrem Nacken nur notdürftig verdeckte.
»Ich habe mich verlaufen, ich suche den Herrscherpalast«, sagte Ellin.
Die Sklavin lächelte freundlich. »Da habt Ihr Euch in der Tat verlaufen. Der Palast liegt auf der anderen Seite der Brotfruchtkuppel.« Sie deutete auf den mit Pflanzungen übersäten Hügel zu ihrer Rechten.
»Könntet Ihr mir bitte den Weg beschreiben?«
»Ich kann Euch begleiten«, bot die Sklavin an.
Ellin winkte ab. »Oh nein, das müsst Ihr nicht tun.«
Die Sklavin neigte ihr Haupt. »Da ich in
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